Erwin Reichart verlässt Maria Vesperbild

Wallfahrtsdirektor: Anbiedern an Zeitgeist für Kirche verhängnisvoll

Veröffentlicht am 16.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Ziemetshausen ‐ Die Kirche müsse deutlich machen, dass sie mit dem, was sie biete, für die Menschen überlebensnotwendig sei, sagt der scheidende Wallfahrtsdirektor von Maria Vesperbild, Erwin Reichart. Im katholisch.de-Interview spricht er zudem über notwendige Veränderungen in der Wallfahrtsseelsorge.

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Maria Vesperbild nennt sich selbstbewusst die "schwäbische Hauptstadt Mariens". In den kleinen Ort, der zur Gemeinde Ziemetshausen im Landkreis Günzburg gehört, kommen jedes Jahr zwischen 400.000 und 500.000 Menschen. Seit sechs Jahren ist Erwin Reichart Wallfahrtsdirektor, am ersten Februar hört er mit Beginn seines Ruhestands auf. Im Interview spricht er über die Anziehungskraft der Wallfahrt und ihre Strahlkraft für die Kirche.

Frage: Herr Reichart, Sie gehen bald in Ruhestand, nach sechs Jahren in Maria Vesperbild. Wie hat Sie diese Zeit geprägt?

Reichart: Diese Zeit war für mich eine große Bereicherung. Ich habe viel dazugelernt – bis hin zum Umgang mit Handy, Computer und Medien. Mein Horizont hat sich gewaltig erweitert.

Frage: Sie haben in einer Stellungnahme von anstrengenden und herausfordernden Jahren gesprochen. Wie meinen Sie das?

Reichart: Entgegen allen Erwartungen hat sich die Kirchenrenovierung mehr als vier Jahre hingezogen, wobei der Wallfahrtsbetrieb ganz "normal" weitergegangen ist. Dazu kamen noch die Corona-Einschränkungen. Das bedeutete viel Durcheinander und Improvisation. Auch finanziell und personell war einiges zu konsolidieren. Für mich als früherer Pfarrer war es auch eine große Umstellung, einen Wallfahrtsort zu leiten; das ist eine ganz andere Nummer.

Frage: Maria Vesperbild zählt mit mehreren hunderttausend Pilgern im Jahr zu den meistbesuchten Wallfahrtsorten Süddeutschlands – und das in einer Zeit, in der die Kirchenmitgliederzahlen zurückgehen. Welche Bedeutung hat da so ein Wallfahrtsort?

Reichart: In solchen Zeiten nimmt die Bedeutung von Wallfahrtsorten eher zu. Sie werden mehr und mehr zu geistlichen Zentren, wo die Leute das suchen und finden, was ihre Pfarrei nicht mehr leisten kann – allein die vielen Messangebote und Beichtgelegenheiten. Manche kommen auch hierher, weil sie einen ganz normalen katholischen Gottesdienst wollen, ohne dass sie von irgendwelchen "Mätzchen" des Geistlichen verärgert werden.

Frage: Von welchen "Mätzchen" Geistlicher sprechen Sie und wie sieht für Sie dagegen ein "ganz normaler katholischer Gottesdienst" aus?

Reichart: Manche beklagen sich, dass in den Gottesdienst irgendwelche Gags eingebaut werden, um dem Gottesdienst einen Unterhaltungswert zu geben, z. B. der Pfarrer fährt mit Inlineskater in die Kirche herein oder es wird im Gottesdienst anhand von Mülltonnen für die Mülltrennung geworben. Im normalen Gottesdienst geht es einzig und allein um die Verehrung Gottes.

Frage: Was machen Sie in Maria Vesperbild anders – oder besser – als andere Wallfahrtsorte?

Reichart: Ob es besser ist, ist die Frage. Jeder Wallfahrtsort hat seine Traditionen und seinen besonderen Charakter. Ein großer Vorteil von Maria Vesperbild ist seine Lage in der freien Natur mit einem wunderbaren Wallfahrtsgelände mit vielen Gebetsoasen. Vor allem die Fatima-Grotte im nahen Wald hat sich neben der Wallfahrtskirche zu einem großen zweiten Anziehungspunkt entwickelt. Der Besuch dort ist "niederschwellig", das heißt viele der Kirche mehr oder weniger Fernstehende und viele mit Migrationshintergrund finden hier doch noch einen religiösen Bezugspunkt und eine neue geistige Heimat. Ich glaube auch, dass in Maria Vesperbild die Öffentlichkeitsarbeit und die ganze Medientechnik einmalig ist.

Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA

Die Wallfahrtskirche Maria Vesperbild stammt aus dem 18. Jahrhundert.

Frage: Was kann die Kirche in Deutschland von Maria Vesperbild lernen?

Reichart: Was ich auch lernen musste: Den Einsatz der modernen Medien! Maria Vesperbild zeigt auch, dass katholisches Profil zeigen, nicht schadet, sondern sogar nützt. Das Anbiedern an den Zeitgeist war immer für die Kirche verhängnisvoll!

Frage: Was verstehen Sie unter anbiedern an den Zeitgeist? Immerhin zeigen Umfragen deutlich, dass sich die Katholikinnen und Katholiken Reformen wünschen, damit sie der Kirche nicht den Rücken kehren.

Reichart: Anbiedern heißt, dass wir nicht darauf schauen, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. Reformen will jeder und zwar mit Recht. Echte Reform war in der Kirchengeschichte nie, Glaube und Moral dem Zeitgeist anzupassen und zu verändern, sondern immer das Glaubensleben zu erneuern. Und das ist sehr mühsam. Das geht nicht ohne Opfer, wie jeder an sich sehen kann!

Frage: Andere Kirchen würden sich Besucherzahlen wie Ihre wünschen. Was müsste sich ändern, damit Glaube und Kirche anziehender werden?

Reichart: Die Kirche muss selbstbewusst deutlich machen, dass sie mit dem, was sie bietet, für jeden Menschen lebensnotwendig – ja überlebensnotwendig ist. Sie müssen wieder erfahren, dass sie mit ihren Sorgen, ihrem Leid und ihrer Sterblichkeit in der Kirche die Lösung, sogar die Erlösung finden. Man muss auch ganz klar verkünden, dass der Weg zum Himmel kein Spaziergang ist. Die Kirche muss auch endlich laut hinausschreien, welche verheerende Folgen die Entchristlichung haben wird. Denn es stimmt weiterhin, was der selige Pater Rupert Mayer schon dem Dritten Reich prophezeit hat: "Ein Staat ohne Religion geht zugrunde!" 

Frage: Viele Menschen in Deutschland leben ganz gut ohne Glauben. Welche verheerenden Folgen der Entchristlichung befürchten Sie?

Reichart: Wir zehren noch von der hohen christlichen Kultur, die unsere Vorfahren geschaffen haben. Nach dem Rückfall ins Heidentum unter Hitler, hat man in Deutschland ganz bewusst wieder an die christlichen Werte angeknüpft. Eine gottlose Gesellschaft ist eine kalte, grausame Gesellschaft. Der große deutsche durchaus kirchenkritische Dichter Heinrich Böll hat einmal sinngemäß gesagt: Wenn er die Wahl hätte zwischen der schlechtesten christlichen Gesellschaft und der besten heidnischen, dann würde er immer noch die christliche wählen!

Frage: Wird sich auch die Wallfahrtsseelsorge in Zukunft verändern müssen?

Reichart: Ja, wir werden immer mehr mehrspurig fahren müssen! Was sich hier schon so herausgebildet hat, muss auch in Maria Vesperbild noch mehr ausgebaut werden: Die Suchenden und die Fernstehenden müssen mehr beachtet werden. Für sie muss es mehr Angebote oder mehr Ansprechpartner geben. Wenn ich zum Beispiel immer wieder sehe, dass Menschen hier vor der Wallfahrtskirche unsere Bäume umarmen? Es sind esoterisch angehauchte Leute, die spüren, dass Maria Vesperbild ein "Kraftort" ist. Aber von der Kirche weitgehend alleingelassen suchen sie an der falschen Stelle. Die Kirche muss zum Beispiel endlich wieder anfangen, die Wirkmacht der Sakramentalien wie zum Beispiel des Weihwassers zu propagieren. Häufig werden die Sakramentalien von "modernen" Theologen bloß noch als Erinnerungsmittel gesehen und entsprechend "geweiht".    

„Die Kirche muss zum Beispiel endlich wieder anfangen, die Wirkmacht der Sakramentalien wie zum Beispiel des Weihwassers zu propagieren.“

—  Zitat: Erwin Reichart

Frage: In diesem Jahr war Erzbischof Georg Gänswein zum Hochfest Mariä Himmelfahrt in Maria Vesperbild zu Gast, im vergangenen Jahr war es der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Welche Akzente setzen Sie mit diesen Gästen?

Reichart: Die Einladung ergeht meist schon Jahre vorher. Dabei ist uns natürlich immer auch wichtig, dass der entsprechende Bischof klar, eindeutig und überzeugend den katholischen Glauben verkündet und die Gläubigen nicht verwirrt, sondern sie für das Glaubensleben aufbaut. Dass dann die letzten Bischöfe durch aktuelle Ereignisse und Debatten besonders im Rampenlicht der Medien standen, haben wir nicht vorausgesehen, hat uns aber nur genützt.

Frage: Inwiefern genützt – waren das nicht eher negative Schlagzeilen? Und glauben Sie, dass die wirklich für mehr Besucher gesorgt haben?

Reichart: Gerade bei Kardinal Woelki konnte ich beobachten, dass viele Leute nicht mehr alles glauben, wie es manche Medien darstellen. Sie merken, dass es bei aller berechtigten Kritik ganz offensichtlich darum geht, einen unbequemen treukatholischen Bischof loszuwerden. Nicht wenige wollten ihm ihre Solidarität zeigen und immer wieder hörte ich sagen: "Herr Kardinal, halten Sie bitte durch!"

Frage: Was wünschen Sie sich von der Kirche für die Zukunft? In Deutschland und weltweit.

Reichart: Ich wünsche mir, dass das Glaubensleben in Deutschland und in Europa wieder neu aufblüht – zum Wohl und zum Heil eines jeden Menschen und der ganzen Gesellschaft. Es muss uns allen letztlich wieder um das gehen, was den Apostel Paulus schon umgetrieben hat: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!"

Frage: Gerade hat das Glaubensdikasterium eine Erklärung zum Segen von Paaren in "irregulären Situationen" veröffentlicht. Spontane Segensbitten, wie etwa auch auf Wallfahrten, wurden darin genannt. Provokant gefragt: Wird auch in Maria Vesperbild einem homosexuellen Paar ein solcher Segen gespendet?

Reichart: In Maria Vesperbild wird jeder, der darum bittet, gesegnet. Wir segnen den einzelnen Menschen oder eine Gruppe von Menschen, können aber niemals so tun, als ob wir eine außereheliche sexuelle Verbindung gutheißen. Die Kirche hat immer verkündet, dass Diskriminierung eine Sünde ist, auch wenn einzelne Christen in diesem Punkt versagt haben. Sie hat auch immer verkündet, dass der Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe eine Sünde ist. Wir stimmen voll mit dem Papst überein, dass wir niemals auch nur den Anschein erwecken dürfen, als ob eine "Homo-Ehe" das Gleiche wie die sakramentale Ehe von Mann und Frau wäre. Die Kirche erkennt in den Vorgaben der Natur den Willen Gottes. Wie allein schon die Geschlechtsorgane zeigen, ergänzen sich Mann und Frau gegenseitig auf allen Ebenen. Und der größte Unterschied ist, dass diese Liebe fruchtbar ist und damit Mann und Frau an der Schöpfung eines neuen Menschen mitwirken dürfen. Das ist doch etwas ganz Wunderbares und Großes! Wer Ungleiches gleichmacht ist ungerecht und diskriminiert. Übrigens: Ich bin mit einem "Homo-Ehepaar" befreundet und die sehen auch mit vielen anderen diesen Unterschied ein. Es ist auch ganz klar, dass jemandem, der den Glauben der Kirche nicht kennt und praktiziert, die katholische Sexualmoral weltfremd und kaum lebbar vorkommen muss. Denn dazu braucht es die Opferbereitschaft und vor allem auch die Inanspruchnahme der Hilfe Gottes, die uns besonders durch die Sakramente geschenkt wird. Der Papst möchte in einem theologischen Drahtseilakt einfach zeigen, dass die Kirche alle Menschen liebt und dass wir für alle Menschen offen sein müssen. Er fühlt sich wohl weniger als der "Felsenmann" sondern vielmehr als der "Pfarrer der Welt". In der Praxis aber wird das in gewissen Kreisen als „1. Schritt“ betrachtet werden und Wasser auf die Mühlen derer gießen, die im Glauben und in der Moral eine "andere Kirche" betreiben.

Von Christoph Paul Hartmann