Theologe und Ex-Schiri: Im Fußball gibt es so etwas wie Heiligen Geist
Er klopfte schon an die Tür zur österreichischen Bundesliga – dann entschied er sich doch für die wissenschaftliche Laufbahn in der Theologie, weil sich beides nebeneinander "nicht mehr ausging", wie man in Österreich sagt. 2019 hörte er – mit 25 Jahren – als aktiver Schiedsrichter auf. Inzwischen ist Thomas Gremsl (29) Professor für Ethik und Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Graz. Doch losgelassen hat ihn die Schiedsrichterei nicht: Bei rund zehn Spielen pro Halbsaison beobachtet er die Unparteiischen und versucht ihnen in ihrer Entwicklung weiterzuhelfen. Inwiefern seine beiden Arbeitsfelder sich gegenseitig beeinflussen, was der "Spirit" des Fußballs mit dem Heiligen Geist zu tun hat und wie er als Ethiker jüngste einschneidende Regeländerungen im Fußball betrachtet – darüber spricht Gremsl im Interview anlässlich des Starts der Fußball-Europameisterschaft der Männer in Deutschland.
Frage: Herr Gremsl, wo haben Sie mehr für Ihr Leben gelernt: im Seminarraum oder auf dem Fußballplatz?
Gremsl: Wie so oft in der Ethik gibt es auch hier nicht unbedingt eine eindeutige Antwort (lacht). Auf dem Fußballplatz habe ich gelernt, wie man mit Menschen umgeht und wie man Konfliktsituationen meistert. Der Fußball ist wirklich eine große Persönlichkeitsschule, vor allem, wenn man als Schiedsrichter tätig ist. Man kann lernen, wie ein soziales Gefüge funktioniert, wie man mit Stress unter hohen körperlichen Belastungen umgeht und wie man dabei einen kühlen Kopf behält. Im Seminarraum geht es darum, sich Wissen anzueignen, dass man lernt, Dinge kritisch zu hinterfragen, dass man verschiedene Positionen diskutiert und versucht weiterzudenken – sozusagen, über den Tellerrand zu blicken. Ich habe also in beiden Bereichen sehr viel für mein Leben gelernt und konnte die dort gewonnen Kompetenzen und Fähigkeiten auch jeweils in den anderen Bereichen gut einbringen.
Frage: Hat Ihre Begeisterung für die Schiedsrichterei auch mit Ihrem Interesse an ethischen Fragen zu tun?
Gremsl: Der Fußball war natürlich vor der Ethik da. Offiziell begonnen habe ich mit 14 Jahren, ich habe aber schon mit 10 oder 11 Spiele meines Bruders gepfiffen. Mir war immer sehr wichtig, Verantwortung zu übernehmen – da wären wir bei ethischen Kategorien – und dadurch anderen ein gutes, schönes und gerechtes Spiel zu ermöglichen. Das ist auch wieder eine Schnittstelle zur Ethik.
Frage: In der Ethik geht es ja auch um Gerechtigkeit.
Gremsl: Stimmt. Aber entgegen der Tatsache, dass viele Kolleginnen und Kollegen betonen, sie sind Schiedsrichter, weil sie Gerechtigkeitsfanatiker sind, würde ich das so nicht sagen. Ich will ein faires Spiel ermöglichen, klar. Aber jeder weiß, wie vielfältig und teils diffus die Perspektiven auf Gerechtigkeit sind und dass das Regelwerk auch nicht unbedingt immer gerecht ist.
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen?
Gremsl: Angenommen, ich gebe unberechtigterweise einen Strafstoß und daraus folgt ein Tor. Wenn mir dann in der Halbzeitpause klar wird, dass das eine Fehlentscheidung war, könnte ich argumentieren, dass ich im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit der gegnerischen Mannschaft nun auch einen Vorteil geben müsste. Aber das wäre sportlich unfair.
Frage: Seitdem Sie Ihre aktive Karriere beendet haben, sind Sie Schiedsrichterbeobachter: Sie arbeiten nach dem Spiel mit dem jeweiligen Schiedsrichter die Partie auf. Worauf achten Sie bei der Spielbeobachtung?
Gremsl: In erster Linie natürlich auf die Einhaltung des Regelwerkes. Dazu auf das Stellungsspiel und clevere Laufwege. Dann sind der Persönlichkeitsaspekt und die Körpersprache essenziell: Wie agiere ich in Drucksituationen, auch mit den Spielerinnen und Spieler und Funktionärinnen und Funktionären? Wie komme ich rüber? Autorität ist wichtig für einen Schiedsrichter, denn Entscheidungen müssen akzeptiert werden. Aber man darf nicht überheblich oder gar arrogant wirken.
Frage: Wenn Sie nach dem Spiel mit den Unparteiischen reden: Was möchten Sie da sehen oder hören?
Gremsl: Am allerwichtigsten ist mir, dass die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter sich selbst reflektieren können: wo ihre Leistung gut war und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Sie sollen selbstkritisch sein und den Willen zeigen, an sich zu arbeiten. Wenn sie vom Beobachter die Note 1 bekommen, würden sich manche Kollegen vielleicht damit begnügen. Ich habe mir dann immer gedacht: Ich bin da schlecht gestanden, dort hätte ich die Laufarbeit optimieren müssen, in der Situation hätte ich anders reagieren müssen. Genau das ist wichtig, wenn man sich weiterentwickeln will. Einmal fälschlicherweise eine Gelbe Karte zu geben, kann vorkommen. Aber wenn ich im Bereich Auftreten oder Körpersprache Defizite habe, muss ich daran arbeiten, denn im proaktiven Vorgehen und Antizipieren von Situationen, in der Kommunikation mit den Spielerinnen und Spielern kann man schon viel Luft rausnehmen, damit das Spiel einem nicht entgleitet.
Frage: Was zeichnet für Sie einen guten Schiedsrichter aus?
Gremsl: Neben einer guten körperlichen Verfassung und exzellenter Regelkenntnis braucht man auch eine entsprechende mentale Stärke, verbunden mit einer guten Selbstreflexionsfähigkeit. Dann macht Erfahrung viel aus. Und man braucht ein Gefühl für den "Spirit of the Game". Im englischen Originaltext des Regelwerks steht dieser für das "Ethos des Fußballs" und damit für einen zentralen Orientierungspunkt, den man berücksichtigen soll. Das gilt gerade in Situationen, in denen das Regelwerk keine klare Entscheidung vorgibt, sondern Spielraum offenlässt.
Frage: Was macht diesen "Spirit of the Game" aus?
Gremsl: Ich muss in konkreten Situationen das Regelwerk abrufen können. Aber zusätzlich muss ich mit der besonderen Dynamik, die es in der jeweiligen Situation oder im Spiel gibt, arbeiten können. Ich muss Entscheidungen treffen, die sich am Regelsinn orientieren, die aber auch den Kontext des Spiels berücksichtigen. Nicht umsonst sind die Regeln teilweise interpretationsbedürftig formuliert. Der Fußball lebt einerseits ganz besonders von konkretem Spiel, von dessen Dynamik, vielleicht sogar Mystik. Aber es gibt auch eine andere Ebene: die Saison oder der Wettbewerb, der nochmal eine ganze eigene Dynamik reinbringt. Der Fußball hat ganz viele heterogene Komponenten.
Frage: Dieser "Spirit of the Game" ist dann sozusagen etwas wie eine metaphysische Komponente. Das klingt fast nach christlicher Sozialethik.
Gremsl: Die in meinen Augen eine sehr wichtige Rolle spielen sollte, aber leider zu oft unberücksichtigt bleibt. Man ist ja fast dazu geneigt, eine Analogie zum Heiligen Geist herzustellen. So wie der Heilige Geist ständig gegenwärtig ist, in uns wirkt und uns leitet, so sollte auch der "Spirit of the Game" im Kontext des Fußballs Orientierung für das Handeln bieten. Das betrifft alle Akteure auf und neben dem Platz, schließt aber auch die Fans und die das konkrete Spiel übersteigenden – ich denke hier an sozialethisch relevante Aspekte – Dimensionen mit ein. Der "Spirit of the Game" soll also im Spiel und darüber hinaus inspirieren und dazu beizutragen, den Fußball in all seinen Facetten zu verbessern.
„So wie der Heilige Geist ständig gegenwärtig ist, in uns wirkt und uns leitet, so sollte auch der "Spirit of the Game" im Kontext des Fußballs Orientierung für das Handeln bieten.“
Frage: Wer war denn – und ich glaube, ich weiß die Antwort schon – als Schiedsrichter Ihr Vorbild?
Gremsl: Sie denken jetzt bestimmt, ich sage Pierluigi Collina. Das tue ich aber nicht (lacht).
Frage: Mit ihm hätte ich tatsächlich gerechnet. Collina nennen fast alle, weil ihn eine besondere Aura ausgezeichnet hat. Wer ist es dann?
Gremsl: Es ist Peter Fröjdfeldt, ein schwedischer Schiedsrichter, der bei der EM 2008 in Österreich und der Schweiz im Einsatz war. Die war zu der Zeit, als ich begonnen habe. Bei ihm hat mir auch die Ausstrahlung imponiert. Im Zuge dieser EM hat es eine Dokumentation über die Schiedsrichter gegeben. Darin gibt es eine Sequenz, in der sich Fröjdfeldt mit seinen Assistenten auf ein Spiel vorbereitet und zu ihnen sagt: "Expect the unexpected", sie sollen das Unterwartete erwarten. Das ist ein ganz wesentlicher Satz, den ich auch Kolleginnen und Kollegen immer mitgebe. Es gibt keine Situation im Fußball, die es nicht gibt. Genau deswegen brauche ich fundiertes Regelwissen. Wenn ich etwas nicht abrufen kann, was selten vorkommt, aber im Regelwerk behandelt wird, bekomme ich große Schwierigkeiten.
Frage: Wir landen immer wieder beim Regelwerk. Im Fußball gab es in den vergangenen Jahren vor allem eine einschneidende Regeländerung: die Einführung des VAR, des Videoassistenten. Viele sagen, er mache den Fußball trotz mancher Unzulänglichkeiten fairer – andere wollen ihn einstampfen. Ihre Meinung als Ethiker dazu?
Gremsl: Ich bin dem VAR gegenüber grundsätzlich sehr skeptisch. Er gibt den Kolleginnen und Kollegen zwar eine weitere Möglichkeit, ihre Entscheidung exakter zu treffen. Aber gleichzeitig müssen die Hintergründe für seinen Einsatz hinterfragt werden. Ich würde sagen: Es stehen vor allem finanzielle Interessen dahinter, warum eine Entscheidung möglichst genau getroffen werden muss. Der VAR kostet sehr viel Geld, aber der Nutzen ist demgegenüber relativ gering, wie Studien zeigen. Schiedsrichter auf dem Niveau, in dem der VAR eingesetzt wird, sind sehr exakt in ihren Entscheidungen. Durch den VAR wird die Entscheidungsrichtigkeit lediglich im Bereich von 5,8 bis 6,2 Prozent erhöht. Das ist nicht wirklich viel. Die Mehrzahl sind Grauzonenentscheidungen – da müsste man eigentlich dem "Spirit of the Game" folgen. Zudem muss ich aus ethischer Sicht sagen: Wenn der Einsatz nur im Profibereich möglich ist, kommt es zu einem noch weiteren Auseinanderdriften zwischen Profi- und Amateurbereich. Es wird immer wieder betont, Fußball sei universal – ob man in einem kleinen Dorf in Argentinien oder im Wembley-Stadion spielt, überall würden die gleichen Regeln gelten. Jein – seit der der Einführung des VAR stimmt das so nicht mehr. Außerdem leiden Spielfluss und das Fan-Erlebnis.
Frage: Ein weiterer Punkt in Sachen "Spirit of the Game": Bei der anstehenden EM darf nur noch der Mannschaftskapitän mit dem Schiri reden – für alle anderen Spieler gibt es konsequent Gelb, wenn sie sich beschweren. Ich vermute, das ist eine Entscheidung, die Sie begrüßen.
Gremsl: Absolut. Dieses ständige Kritisieren von Spielerinnen und Spielern oder Funktionärinnen und Funktionären, obwohl sie wissen, dass es nichts bringt, konnte ich noch nie nachvollziehen. Wir müssen diese oftmals auch gespielte Empörungen eindämmen. Eine Grundemotionalität ist völlig legitim. Aber der Schiedsrichter wird immer mehr zum Sündenbock stilisiert. Der "Spirit of the Game" fordert von den Spielern und Trainern, Entscheidungen zu respektieren, auch wenn sie falsch sein sollten. Da hat der Fußball in den vergangenen Jahren eine regelrechte Unkultur entstehen lassen. Der Fußballplatz ist letztlich ein Ort für die ganze Familie, das muss er auch künftig bleiben. Ich habe es oft genug erlebt, dass Eltern mit ihren Kindern am Fußballplatz waren und selbst wüst rumgeschimpft haben. Physische Gewalt und Fankrawalle unterbinden wir ja auch. Aber wir haben auch die Aufgabe, die verbale Gewalt zu unterbinden, gerade im Kinder- und Jugendfußball. Was da zum Teil los ist, ist wirklich Wahnsinn, auch mit Blick auf Schiedsrichter. Es ist der Bereich, wo wir die meisten Kolleginnen und Kollegen verlieren, weil sie das mental nicht durchstehen. Und es ist nun mal der Bereich, mit dem alles beginnt.