Studie vorgestellt – Kritik an Bistumsleitung und staatlichen Behörden

Trier: Mindestens 199 Missbrauchsbetroffene in Zeit von Bischof Spital

Veröffentlicht am 24.07.2024 um 14:45 Uhr – Lesedauer: 

Trier ‐ 49 Täter, 199 Opfer: Eine neue Studie zeigt das Ausmaß von sexualisierter Gewalt und Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter im Bistum Trier während der Amtszeit von Bischof Hermann Josef Spital. Die Autoren kritisieren Kirche und Behörden.

  • Teilen:

Erstmals ist der Umfang sexuellen Missbrauchs im Bistum Trier während der Amtszeit von Bischof Hermann Josef Spital umfassend wissenschaftlich untersucht worden. Demnach gab es zwischen 1981 und 2001 mindestens 199 Betroffene, wie es in einer am Mittwoch in Trier vorgestellten Studie heißt. Die Studie zählt 49 Beschuldigte und mutmaßliche Täter. Bis auf fünf Personen waren alle Missbrauchsbetroffene minderjährig.

Die Wissenschaftler der Trierer Universität sprechen von einem Hellfeld – und vermuten, dass die tatsächlichen Zahlen höher sind. Bei den Recherchen stießen die Studienautoren Lutz Raphael, Lena Haase und Alisa Alic auch auf drei Personen, die sich in zeitlicher Nähe zur erlittenen sexualisierten Gewalt selbst das Leben nahmen. Die genauen Umstände könnten zwar nicht mehr aufgeklärt werden, doch diese Fälle zeigten, "welche tiefgreifenden seelischen Nöte und psychischen Schädigungen durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen entstehen konnten".

Unangemessener Umgang mit Intensivtätern

Kritik formuliert die Studie an der Bistumsleitung: "Während für die Aufklärung intern Sorge getragen wurde, so wurde die moralische Pflicht zu Anzeige und Information staatlicher Stellen vollständig vernachlässigt." Zwar sei über eine unabhängige Kommission zur Prüfung der Vorwürfe gesprochen, diese aber nie eingerichtet worden. Laut Studie waren der damaligen Bistumsleitung 20 Beschuldigte bekannt. 29 weitere Beschuldigte seien ab 2010 gemeldet worden.

"Spital stellte sich der Aufgabe, Anzeigen sexuellen Missbrauchs nachzugehen, seine Lösungen waren getragen von pastoralem Vertrauen, aber völlig unangemessen angesichts des hohen Rückfallrisikos gerade von Intensivtätern", kritisieren die Forscher. So sei etwa kein einziges kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet worden. "Man beließ es – wenn diese erfolgten – bei den staatlicherseits verhängten Strafen", schreiben die Studienautoren. In den 20 Jahren habe es nur drei Verurteilungen gegeben. Die Täter erhielten jeweils zwei Jahre auf Bewährung für zwischen 25 und 41 Taten.

Bild: ©Adobe-Stock/oha (Symbolbild)

"Während für die Aufklärung intern Sorge getragen wurde, so wurde die moralische Pflicht zu Anzeige und Information staatlicher Stellen vollständig vernachlässigt", so die Studienautoren über die damalige Trierer Bistumsleitung.

"Bischof Spital ging persönlich neue Wege pastoraler Verantwortung, als er Gespräche mit Eltern betroffener Minderjähriger führte, sich um die Belange Betroffener kümmerte", heißt es in dem Bericht. Er war laut Studie mit mindestens 13 Fällen selbst befasst.

Es lasse sich für Bischof Spital keine aktive Vertuschung von einzelnen Fällen des sexuellen Missbrauchs feststellen. Allerdings sei unter seiner Leitung fahrlässig gehandelt worden, wenn weitere Kinder und Jugendliche den bekannten Tätern ausgesetzt worden seien.

Weihbischof Schwarz in mindestens neun Fällen involviert

Kritisiert werden auch staatliche Behörden in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Die juristische Ahndung sei in Trier und Saarbrücken von Milde geprägt gewesen. Bei Ministerien und Schulbehörden habe die Kenntnis über sexuelle Übergriffe keineswegs immer zur Anzeige bei der Polizei geführt. "Vielmehr überwog die Hoffnung auf einen geräuschlosen Ablauf und ein Versanden der Angelegenheit ohne Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden", führen die Autoren aus.

Das wissenschaftliche Team hat auch die vorübergehende Bistumsleitung durch Weihbischof Leo Schwarz (2001-2002) untersucht; er war demnach in mindestens neun Fällen involviert. "Insgesamt vermitteln alle von uns herangezogenen Quellen den Eindruck, dass er das Thema sexueller Missbrauch und vor allem dessen Ausmaß und Folgen unterschätzte", so die Forscher und vermuten, dass persönliche Bindungen Schwarz beeinflussten.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA (Archivbild)

Bischof Stephan Ackermann übte nach Veröffentlichung der Studie scharfe Kritik an Spital und der damaligen Bistumsleitung.

Der amtierende Trierer Bischof Stephan Ackermann kritisierte seinen Amtsvorgänger Spital in einer ersten Stellungnahme. "Ein pastoraler Umgang mit Verbrechen ist verfehlt", sagte Ackermann. Er monierte unter anderem, dass es zwischen 1981 und 2001 kein kirchenrechtliches Verfahren gegen einen Täter gegeben hat.

Bei den Recherchen stießen die Studienautoren auch auf drei Personen, die sich in zeitlicher Nähe zur erlittenen sexualisierten Gewalt das Leben nahmen. "Auch wenn die Umstände und Hintergründe dieser Suizide nicht mehr aufgeklärt werden können, so ist für mich diese Vorstellung unerträglich", zeigte sich Ackermann betroffen. Er verwies darauf, dass hinter allen Zahlen immer Menschen stünden und sprach von einer schmerzlichen Erinnerung. Machtstrukturen in der katholischen Kirche hätten Missbrauch begünstigt und Aufklärung sowie Ahndung verhindert, räumte er ein. Der Bischof versicherte, dass er sich dafür einsetze, dass Kirche einen sicheren Raum darstelle.

Ackermann: Schutz der Institution war wichtiger

Vor dem Hintergrund, dass der damaligen Bistumsleitung 20 der Beschuldigten bereits bekannt gewesen waren, kritisierte Ackermann, dass unter Spital der Schutz der Institution über den Rechten und Bedürfnissen der Betroffenen gestanden habe. "Zudem zeigen die genannten Beispiele auf, dass die Fälle nicht konsequent in denselben Gremien bearbeitet wurden", sagte er. Auch Weihbischof Leo Schwarz, der übergangsweise das Bistum leitete, habe falsch agiert. Dessen Umgang mit Missbrauchsfällen bezeichnete Ackermann als unangemessen, er habe sogar Verbrechen sexuellen Missbrauchs vertuscht. Ackermann sprach von Empathie für die Priester-Täter und der Sorge, den Ruf der Priester und der Kirche zu schützen.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs sieht "klerikalen Korpsgeist" auf der einen Seite und Ohnmachtserfahrungen auf der Seite der Betroffenen: "Erneut erschreckt die Verständnislosigkeit der Verantwortlichen für die Betroffenen der Taten". Alle eingeleiteten Schritte seien zu wenig gewesen, um weitere Taten zu verhindern. "Ausdrücklich" spreche die Kommission daher von Dilettantismus rund um Bischof Spital.

Der Verein "Missbrauchsopfer und Betroffene im Bistum Trier" zeigte sich erschüttert. "Um es klar zu sagen, es geht um tausendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Umfeld der Kirche. Ungesühnte Fälle, die im Nachhinein entdeckt werden", sagte der Vereinssprecher Hermann Schell.

Studien zu Marx und Ackermann angekündigt

Für Schell ist diese Untersuchung eine "Ouvertüre" für die anstehenden Forschungen zur Verantwortung des aktuellen Bischofs Stephan Ackermann (Bistum Trier) sowie des Vorgängers Reinhard Marx (heute Erzbistum München-Freising) - und des früheren Trierer Generalvikars Georg Bätzing. Er ist inzwischen Vorsitzender der Bischofskonferenz und Bischof in Limburg. "Ich möchte, dass sie eigene Versäumnisse deutlich benennen und die Frage beantworten: Was war mein Anteil daran", sagte Schell der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Grundlage der Studie mit rund 80 Seiten waren mehr als 1.000 kirchliche Personalakten sowie 20 Gespräche mit Betroffenen und Zeitzeugen. Mit 77,3 Prozent seien die Betroffenen männlich, zu 21,6 Prozent weiblich gewesen. In zwei Fällen wurde demnach nicht klar, ob die missbrauchte Person männlich oder weiblich war. Neben dem Missbrauch habe es auch zwei Fälle körperlicher Gewalt gegeben.

Die Studie ist Teil des Projekts "Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sowie hilfs- und schutzbedürftigen erwachsenen Personen durch Kleriker/Laien im Zeitraum von 1946 bis 2021 im Verantwortungsbereich der Diözese Trier: eine historische Untersuchung". Auch die Amtszeiten der Bischöfe Reinhard Marx (2002-2008) und Stephan Ackermann (seit 2009) sollen untersucht werden. Für den gesamten Untersuchungszeitraum zählen die Forscher bislang mindestens 711 Betroffene und 234 Beschuldigte. (mal/KNA)

24.7., 15:10 Uhr: Ergänzt um Reaktion von Ackermann; 25.7., 8:40: Ergänzt um Unabhängige Aufarbeitungskommission und Betroffene.