Kirche als Gegner: Erste Einäscherung in Deutschland vor 150 Jahren
"Breslau, 22. Sept. Bei Gelegenheit der hier tagenden Naturforscher-Versammlung ist unter Leitung des Professors Reclam die erste Verbrennung einer Menschenleiche im Gasofen vollkommen gelungen." Diese Notiz aus den "Augsburger Neuesten Nachrichten" vom 27. September 1874 dokumentiert die erste Einäscherung einer menschlichen Leiche in der Moderne auf damals deutschem Boden. Carl Heinrich Reclam, Bruder des Gründers des Reclam-Verlags, setzte sich als einer der ersten Mediziner in Deutschland aus hygienischen Gründen für diese Bestattungsart ein, hielt Vorträge und schaffte es schließlich, die Leiche einer Frau zu verbrennen, die keine Angehörigen mehr hatte.
Bereits im Mai 1752 hatte sich Sophia von Sachsen-Weißenfels, zeitweise Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth, im heutigen Tschechien nach antikem Vorbild verbrennen lassen. Ihre Einäscherung gilt als erste der Moderne. Schon am 9. Oktober 1874 folgte die nächste Feuerbestattung in Dresden.
Widerstand der christlichen Kirchen
Noch in der Antike war es in Europa üblich gewesen, Leichen zu verbrennen. Mit dem Aufkommen des Christentums änderte sich das. Kaiser Karl der Große verbot die Einäscherung 785 sogar unter Androhung der Todesstrafe. Laut dem Hamburger Kulturhistoriker Norbert Fischer wandelte sich dies Ende des 19. Jahrhunderts aus mehreren Gründen: Bevölkerungswachstum führte zu Engpässen auf Friedhöfen, hygienische Vorstellungen spielten eine Rolle, und die Säkularisierung der Gesellschaft schwächte den Einfluss christlicher Lehren. Die Kirchen wehrten sich lange gegen die Verbrennung von Toten und sprachen sich weiterhin für die Erdbestattung aus. Der Vatikan verbot Katholiken 1886, Mitglied in Feuerbestattungsvereinen zu sein. 1926 untersagte Rom bei einer Einäscherung ein kirchliches Begräbnis. Erst in den 1960er Jahren gab die katholische Kirche ihren Widerstand auf. Einzelne evangelische Landeskirchen, so Fischer, hätten Einäscherungen hingegen schon Ende des 19. Jahrhunderts zugelassen.
Zunächst sei die Feuerbestattung eine "Angelegenheit bürgerlicher Minderheiten" gewesen, sagt der Kulturhistoriker. Später habe sie sich vor allem seitens der sozialistischen Arbeiterbewegung zu einer Speerspitze gegen die Kirchen entwickelt: "als sie die Feuerbestattung als eine für alle gleiche, demokratische und preiswerte Bestattungsart propagierte". In deren Tradition habe sich später die DDR gesehen, die die Feuerbestattung gefördert habe.
Die Idee, Verstorbene zu verbrennen, scheint Ende des 19. Jahrhunderts den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Das erste Krematorium eröffnete 1877 in Gotha. Bis 1930 wuchs die Zahl auf mehr als 100. Die technische Neuerung führte aber auch zu Missbrauch. "Die Nationalsozialisten nutzten sie, um ihre Opfer weitestgehend spurlos zu beseitigen", so Fischer. Besonders zynisch sei dies, da viele Opfer Juden waren. Im Judentum würden Verstorbene für gewöhnlich erdbestattet: "dass man ihnen auch diese Möglichkeit nahm, zeugt von einem besonderen, ideologischen Zynismus".
Immer mehr Feuerbestattungen
Heute ist die Einäscherung in Deutschland die beliebteste Bestattungsart. 2022 ließen sich laut Umfragen der Gütegemeinschaft Feuerbestattungsanlagen 78 Prozent aller Toten verbrennen – Tendenz steigend. Allerdings gibt es regionale Unterschiede: "Je ländlicher und je katholischer eine Region ist, desto geringer sind die Einäscherungszahlen", so Fischer. In den ehemaligen DDR-Regionen ist der Anteil noch heute besonders hoch: 2022 lag er zwischen 89 Prozent in Brandenburg und 95 Prozent in Thüringen.
Die Gründe für eine Einäscherung sind unterschiedlich. Kosten spielen ebenso eine Rolle wie die eigene Weltanschauung. Auch wer sich auf See oder in einem Bestattungswald bestatten lassen will, muss zunächst verbrannt werden. Für Simon Walter von der Stiftung Deutsche Bestattungskultur in Düsseldorf liegt das auch am Wunsch nach Individualität. "Nach einer Einäscherung stehen einfach viel mehr Möglichkeiten offen." Auch dass Familien oft weit auseinander wohnten, beeinflusse die Wahl der Bestattungsart: "Wenn die Eltern in einer Kleinstadt leben und die Kinder in Berlin oder New York, fragt man sich, wer sich um das Grab kümmert. Da gibt es viele Möglichkeiten, aber fast immer brauchen diese eine Einäscherung."
Diese Entwicklungen hätten Auswirkungen auf die Friedhöfe, so Walter. Die seien meist zu einer Zeit angelegt worden, in der man noch davon ausgegangen sei, dass die meisten Menschen im Sarg bestattet würden. "Jetzt brauchen wir aber viel weniger Platz." Für Kommunen und Kirchen sei das auch eine Kostenfrage – die Flächen müssten schließlich unterhalten werden. Für die Zukunft geht Walter davon aus, dass die Zahl der Einäscherungen weiter steigen wird. Vor allem wegen des Bedürfnisses nach einer Bestattung, die genauso individuell ist wie das vorangegangene Leben.