Warum der Journalist und Pastor Wolfgang Thielmann im Urlaub als Seelsorger arbeitet

"Wir sagen hier alle Du"

Veröffentlicht am 22.07.2014 um 00:00 Uhr – Von Wolfgang Thielmann – Lesedauer: 
Sommerserie

Bonn/Almería ‐ Warum der Journalist und evangelische Pastor Wolfgang Thielmann im Urlaub als Seelsorger arbeitet.

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Drei Wochen war ich in diesem Jahr Urlauber und Pastor gleichzeitig, in einer klein gewordenen Gemeinde unweit von Almería, der Provinzhauptstadt an der Ostküste Andalusiens. Sie besteht zum größten Teil aus Residenten, Deutschen, die den größten Teil des Jahres hier verbringen. Als ich komme, haben sich die meisten zum Sommerbesuch nach Deutschland verabschiedet. Wir feiern mit 30 Leuten Gottesdienst. Im Winter sind es um die 200. Vor Jahren war ich schon einmal Urlauberpastor auf der Nordseeinsel Langeoog.

Annemarie wird 85 und tanzt auf dem Tisch

So eine Zeit knüpft Beziehungen. Du kannst etwas geben und empfängst noch mehr. Dieses Jahr in Andalusien ist besonders. Eine fantastische Landschaft. Vom Strand aus sieht man die Schneeberge der Sierra Nevada. Im Norden, um Tabernas, erstreckt sich die einzige Wüste auf dem europäischen Kontinent. Da hat Bully Herbig den "Schuh des Manitou" gedreht.

Wolfgang Thielmann im Porträt
Bild: ©katholisch.de

Wolfgang Thielmann ist Journalist und evangelischer Pfarrer.

Und Du lernst Menschen kennen. Annemarie zum Beispiel. Sie hat ihren 85. Geburtstag gefeiert. Sie ist im Restaurant auf den Tisch geklettert und hat da oben getanzt. Mit ihrem 90-jährigen Freund. Am Dienstag darauf kommt sie mit Rollator in meine Bibelstunde. "Abraham", antwortete sie, als ich gesagt hatte, worüber wir sprechen wollten, "ja, Abraham kenne ich schon aus dem Kindergottesdienst in Hamburg."

Setzt sich neben mich, schlägt eine der ausgelegten Bibeln auf und fragt laut in ihrer hamburgisch eingefärbten Sprache: "Welche Seite? Du musst mir die Seitenzahl sagen. Wir sagen hier alle Du." Als ich meine letzte Bibelstunde halte, kommt Annemarie vorgefahren. Sie hat sich ein neues Auto gekauft, einen Ford Fiesta.

Sternwarte von Calar Alto, Höhlenwohnungen von Guadix

Aber die Gemeinde will auch, dass wir genug Zeit für Urlaub haben. Natürlich fahren wir nach Granada. Astrid lädt uns auf einen Ausflug ein. Wir lernen die Höhlenwohnungen von Guadix kennen, die Staustufen am Oberlauf des Guadalquivir und die Sternwarte von Calar Alto.

Und selten hatte ich ein so fantastisches Arbeitszimmer. Der Blick aus dem neunten Stock geht aufs Meer und auf die schneebedeckten Berge der Sierra Nevada. Ich genieße es, vor dieser Kulisse Liturgien und Predigten vorzubereiten. Für mich ist das kein Alltag wie für einen Gemeindepfarrer. Ich bin ordiniert, aber freigestellt. Und im Urlaub Gottesdienst zu halten ist anders.

Wolfgang Thielmann mit Mitgliedern seiner Gemeinde im Bibelgespräch.
Bild: ©Wolfgang Thielmann

Wolfgang Thielmann (Zweiter von links) mit Mitgliedern seiner Gemeinde im Bibelgespräch.

Du hast Zeit. Ich habe über die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft gepredigt und eine Trostrede des Propheten Jesaja. Der sichert ihnen zu, dass die, die auf Gott warten, neue Kräfte bekommen. Das ist ein Thema für Urlauber und Residenten. Viele von ihnen bekommen in Deutschland kaum Luft. Hier werden die Atemwege frei, und das Herz pumpt wieder kräftiger. "In Deutschland wär‘ ich schon dout", sagt Annemarie mit ihrem Hamburger Akzent. Das Küstenklima ist freundlich zum Herzen und zu den Atemwegen. Und es ist so unglaublich hell. Kann man hier depressiv werden?

Die Sinne sind offen

Fünf, sechs Leute kommen nachher und bedanken sich. Eine Frau verwickelt mich in ein Gespräch über den Propheten Jesaja. Sie kennt sich aus. Im Urlaub sind die Leute aufgeschlossener. Zuhause, in der Kirche, fällt den meisten schon das Zuhören schwerer. Der Alltag verschließt die Ohren. Hier sind die Sinne offen. Unbefangen sprechen wir über Erfahrungen mit Gott. Das habe ich schon früher erlebt, als Urlauberpastor auf Langeoog. Die Leute sagen gern, wenn meine Gottesdienste etwas in ihnen wach rufen. Wenn sie nicht einverstanden sind, bleiben sie freundlich. Ich kann in solchen Zeiten richtig auftanken.

Viele Kollegen im Pfarramt offenbar auch. Die Evangelische Kirche in Deutschland listet im Internet evangelische Urlaubsgottesdienste an 140 Orten im Ausland auf. In der katholischen Kirche sind die einzelnen Bistümer zuständig. Es gibt keine Übersicht.

Mein Freund steht da oben im Regal

Am Sonntagnachmittag treffe ich Herbert. Eigentlich will ich seine Mutter Alice besuchen. Doch er öffnet mir die Tür. Jahre hatte er im Ort ein Restaurant. Vor zwanzig Jahren hat er die Eltern hierher geholt. Das Klima tat ihnen gut. Vor sechs Jahren starb sein Freund Bernd, mit dem er verheiratet war. Ist er in Deutschland begraben oder hier, frage ich.

„Die Leute sagen gern, wenn meine Gottesdienste etwas in ihnen wach rufen. Wenn sie nicht einverstanden sind, bleiben sie freundlich. Ich kann in solchen Zeiten richtig auftanken.“

—  Zitat: Wolfgang Thielmann über seine Zeit als Urlaubsseelsorger

"Er steht da im Regal", antwortet er. Und zeigt auf eine Blechdose. "Ich wollte ihn bei mir haben." Herbert ist richtig dick, wie die meisten Köche, die ich kenne. Und hat Zucker. Als der Freund starb, hat er das Restaurant aufgegeben. Jetzt macht er gelegentlich Partyservice in der winzigen Küche des Appartements, das er mit der Mutter bewohnt. Er sorgt für sie. Sie ist 84 und wird immer schwächer.

Sie hatte in meinem ersten Gottesdienst gesessen. Pauline und Johanna hatten Musik gemacht. Die beiden jungen Frauen waren mit dem Bus aus Almería gekommen; da machen sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Sie hatten gehört, dass bei uns ein Organist fehlte. Am nächsten Sonntag wollte Alice das E-Piano spielen, damit wir nicht ohne Begleitung singen mussten. Aber sie erschien nicht. "Das kann sie nicht mehr", sagt Herbert später. "Zum Gottesdienst zu gehen strengt sie an, da muss sie ein paar Wochen ausruhen." Gut, wenn ein Pastor intonationssicher und fröhlich singt. Das zieht die Gemeinde mit.

Quadratkilometer unter Plastikplanen

Fernando ist der Kollege der einheimischen, spanischen Gemeinde im Nachbarort. Er ist in Rheinhausen bei Duisburg geboren und spricht deutsch. Durch ihn gewinne ich auch ein paar Eindrücke vom Leben der Einheimischen. Um Almería erstreckt sich der größte zusammenhängende Obst- und Gemüseanbau der Welt. Quadratkilometer unter Plastikplanen, nur von Asphaltpisten durchzogen. Unter den Plastikdächern arbeiten nur Afrikaner.

Ein Holzkreuz im Sand.
Bild: ©Jeanette Dietl/Fotolia.com

Ein Holzkreuz im Sand.

Am Schluss pflückt der Chef schnell fünf Kilo Tomaten in eine Kiste und gibt sie uns. Für den Rest der Pastorenzeit haben wir Tomaten im Überfluss. Fernando ist Pastor, aber von Montag bis Freitag arbeitet er als Sozialarbeiter. Er managt ein Wohnheim für arbeitslose Männer, eine Wohngemeinschaft für Studenten und ein Heim für Saisonarbeiter aus dem Senegal. Und ein Café für Jugendliche und Frauen, mit Sprachkursen, Karate und Gesprächen.

Traumziel Deutschland

Alles hat er selbst aufgebaut. Die Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen liegt bei zwanzig Prozent, bei den unter Dreißigjährigen bei fünfzig Prozent. "Wer vorwärts kommen will, geht," sagt Fernando. Das Traumziel der Jungen ist Deutschland. Fernando soll bald nach Almería versetzt werden. Er möchte die Arbeit ausweiten, die soziale Hilfe genau so wie den Gottesdienst.

Am Tag vor dem Rückflug naht die letzte Bibelstunde. Es sind 15 Leute gekommen, das ist für diese Zeit viel. Wir sprechen darüber, wie Gott uns in Menschen begegnet, die unvermutet unsere Wege kreuzen. Annemarie, die mit dem neuen Fiesta vorgefahren kam, nimmt mich am Schluss in den Arm. "Du, das war richtig schön, die Zeit", sagt sie und zieht das ö hamburgisch lang.

Von Wolfgang Thielmann

Zur Person: Wolfgang Thielmann ist evangelischer Pfarrer und Redakteur der "Zeit"-Beilage Christ & Welt.

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Von Wolfgang Thielmann