Zwischen Facebook und Friedhof: Wo Erinnerung heute stattfindet
Beim gedankenlosen Scrollen durch alte Nachrichten im Facebook-Messenger, tauchte plötzlich ihr Name wieder auf – und mit ihm die vertrauten Worte, die geteilten Gespräche, der unerwartete Stich der Erinnerung. Denn eine gute Freundin ist vor fünf Jahren verstorben, mit gerade einmal 43 Jahren. Gerade jetzt, in den grauen Herbsttagen, wenn viele zum Friedhof gehen, erscheint ein Besuch ihres Grabes besonders bedeutsam: als Geste der Verbundenheit, als Pflege der Erinnerungskultur. Doch ihr Grab liegt über tausend Kilometer entfernt – ein Besuch bleibt unmöglich.
Braucht Erinnerung einen physischen Ort? Die Erinnerung kam durch das Lesen alter Nachrichten, das Durchstöbern ihres alten Facebook-Profils – noch immer "online", versehen mit der schlichten Notiz über ihren Tod: "Wir hoffen, dass alle, die V. liebten, Trost darin finden, ihr Profil zu besuchen und ihr Leben zu würdigen." Zwischen alten Beiträgen, gemeinsamen Kommentaren und den eigenen „Gefällt mir“-Angaben erwacht für einen Augenblick das Gefühl von Nähe – digital, aber dennoch tief menschlich. Facebook führte bereits 2009 sogenannte "Memorialized Accounts" ein – Profile im Gedenkzustand, auf denen Freunde Erinnerungen teilen und erhalten können. Neue Beiträge erscheinen in einem separaten Gedenkbereich, den ein Nachlasskontakt moderiert. Auf persönliche Nachrichten bleibt der Zugriff jedoch gesperrt – aus Respekt vor der Privatsphäre der Verstorbenen.
"Der Tod konfrontiert den Menschen mit seiner Endlichkeit."
Digitale Erinnerungsorte sind keine neue Erfindung. Schon 1995 entstand in den USA der "World Wide Cemetery", die erste virtuelle Gedenkstätte. Die digitalen Grabstellen enthielten einfache Verlinkungen zu Texten oder Fotos. Heute bieten Plattformen wie "Gedenkseiten.de" interaktive Funktionen an: Besucher können Fotos betrachten, Kerzen entzünden oder Kondolenzbucheinträge hinterlassen. Die meistbesuchte Gedenkseite auf dieser Plattform wurde 2013 erstellt und zählt über acht Millionen Aufrufe. Noch heute hinterlassen "Mama" und "Papa" täglich Einträge auf dieser Seite.
Solche Formen der Erinnerung sieht Anton Losinger, Weihbischof im Bistum Augsburg und Experte für bioethische und sozialpolitische Themen in der Deutschen Bischofskonferenz, durchaus positiv: "Dort, wo ein Grab sehr weit entfernt liegt oder, wo Menschen älter geworden sind, kann digitale Kommunikation eine gute Alternative sein und den Trauerprozess unterstützen", sagt Losinger im Gespräch mit katholisch.de. Denn gerade beim Thema Tod sieht er die Gefahr des Verdrängens. "Der Tod konfrontiert den Menschen mit seiner Endlichkeit. Er hat eine existentielle Bedeutung für ihn." Daher sei das Gedenken der Verstorbenen enorm wichtig, sagt der Weihbischof.
Anton Losinger ist Weihbischof in Augsburg und seit 2020 Mitglied des Bayerischen Ethikrats. Von 2008 bis 2016 war er Mitglied des Deutschen Ethikrates.
In der klassischen, "analogen" Erinnerungskultur stand das physische Gedenken im Mittelpunkt: das Grab als Ort der Begegnung, die Grabinschrift als Lebensgeschichte, das Fotoalbum, das Briefe und getrocknete Blumen zwischen seinen Seiten bewahrte. Besonders im katholischen Raum spielten auch Totenzettel, Jahrgedächtnisse und Allerseelenmessen eine wichtige Rolle – Rituale, die Gemeinschaft stifteten und den Verstorbenen in den sozialen und religiösen Zusammenhang eingebettet hielten. Das Anzünden einer Kerze, das Aufstellen eines Bildes oder das Erzählen von Geschichten am Familientisch waren Akte des stillen, alltäglichen Erinnerns – Formen, die ohne Technik auskamen, aber von Nähe, Kontinuität und menschlicher Verbundenheit lebten.
Heute ist Trauer längst zu einem Geschäftsmodell geworden. Sogenannte Grief-Tech-Unternehmen (zu Deutsch: Trauertechnologie) bringen immer neue Angebote auf den Markt. In Deutschland gibt es beispielsweise die beiden Start-ups "grievy" und "VYVYT": Die kostenpflichtige App „grievy“ will Menschen digital begleiten, die nach einen Todesfall Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Trauer suchen. Impulse und Übungen wurden nach Unternehmensangaben von Psychologen entwickelt und wissenschaftliche validiert. Bestatter aus ganz Deutschland sind Partner der App und bieten sie für ihre Kunden zeitweise kostenfrei an.
Immer mehr Unternehmen setzen auf KI - auch beim Thema Trauer
"VYVYT" bietet virtuelle Erinnerungsräume und -feiern für um die 200 Euro an. Dort können sich bis zu 50 Personen als individuell gestaltete Avatare durch den digitalen Erinnerungsraum bewegen, Bilder und Gegenstände anschauen und Botschaften hinterlassen. Seit Anfang des Jahres gehört zu den Angeboten des Start-ups auch ein Erinnerungspodcast für knapp 150 Euro. Auf der Basis von persönlichen Texten, Briefen und Dokumenten generiert eine Künstliche Intelligenz (KI) eine Podcastfolge, in der sich zwei KI-generierte Expertenstimmen über das Leben des Verstorbenen unterhalten.
Beim Einsatz von KI geht das US-Start-up "YOV – You, Only Virtual" noch einen Schritt weiter. Es erzeugt täuschend echte 3D-Avatare Verstorbener, mit denen Trauernde interagieren können. Je mehr Daten der KI zur Verfügung stehen, desto realer wirkt die Imitation. Eine koreanische TV-Dokumentation, in der eine Mutter mithilfe von KI und Virtual Reality (VR) einen digitalen Avatar ihrer verstorbenen Tochter traf, hat 2020 weltweit Aufmerksamkeit erregt. Die Frau ist in Tränen ausgebrochen und hat versucht, ihre Tochter zu berühren. Reaktionen darauf gingen von Lob über Bewunderung bis hin zu Kritik und dem Vorwurf der Manipulation.
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"Hier ist eine Grenze überschritten", sagt Weihbischof Losinger, "weil das Gespräch mit einer imaginären Tochter stattfindet, die es so nicht gab und nicht gibt". Schließlich kämen die Antworten der Tochter nicht von ihr, sondern von einem KI-System, "das sich aufgrund einer Ansammlung von Daten etwas zurechtlegt, was die Tochter gesagt haben könnte". Damit handle es sich um einen Fake, der den Blick auf das Original verstellt, so Losinger. Das gleiche gelte seiner Ansicht nach für KI-generierte Chatbots, die einen Verstorbenen imitieren, wie es zum Beispiel die US-amerikanischen Unternehmen "Seance AI" oder "Hereafter AI" anbieten.
Bislang keine offizielle kirchliche Lehrmeinung zum Thema KI
Eine offizielle kirchliche Lehrmeinung zum Thema KI gibt es bisher nicht. Papst Franziskus betonte im vergangenen Jahr beim G7-Gipfel in Apulien drei Prinzipien für den Umgang von KI im Krieg: Sie darf nie autonom über Leben und Tod entscheiden, muss unter menschlicher Kontrolle bleiben und ethisch verantwortet eingesetzt werden. Damit bleiben viele Frage im Umgang mit der Technologie offen. Medienberichten zufolge arbeitet Papst Leo XIV. an einer Enzyklika, die die Herausforderungen der Menschheit durch die Künstliche Intelligenz in den Blick nimmt.
Was früher der Besuch am Grab war, ist heute nur einen Mausklick entfernt. Erinnerung verändert ihre Form, doch ihr Kern bleibt derselbe: die Sehnsucht nach Nähe, die Angst vor Vergessen, das Bedürfnis, das Vergangene zu bewahren. Künstliche Intelligenz kann dabei helfen, Informationen zu speichern und Geschichten zugänglich zu machen. Gefährlich wird ihr Einsatz dann, wenn sie zur Imitation von Verstorbenen eingesetzt wird, so Losinger. Erinnerung braucht also keinen physischen Ort – aber sie braucht einen echten.
