Fotos, Grießbrei, Wanderlieder
Heimleiter Roden hat die Wände des Luise-Deutsch-Hauses mit historischen Fotos aus der Gemeinde dekoriert. Rund zwei Drittel der 80 Heimbewohner leiden an Demenz. Im Durchschnitt sind die Bewohner 87 Jahre alt. Fast alle von ihnen haben Kindheit, Jugend und den größten Teil ihres Lebens in Schwalbach verbracht. "Ein Altersheim ist natürlich erst einmal etwas Fremdes", weiß Roden. "Auf den Fotos können die Bewohner Vertrautes wiedererkennen."
Wer demenzkrank ist, erinnert sich schlecht an Dinge, die gerade erst passiert sind. Erinnerungen an Erlebnisse vor vielen Jahren sind dagegen oft noch präsent, weil die Speicherfähigkeit des Gehirns zu dem Zeitpunkt noch unversehrt war. "Demenzkranke Menschen kommen sich im Alltag oft inkompetent vor", berichtet Roden. "Aber wenn sie Fotos aus ihrer Jugend sehen, dann wissen sie wieder Bescheid. Es gibt dann etwas, das ich nicht weiß. Und das sie mir erklären können."
Eine 90 Jahre alte Bewohnerin steht vor einem Foto der Schwalbacher Straßenbahn. "Diese Straßenbahn hat meine Mutter damals im Krieg gefahren", erzählt sie plötzlich. "Das war die Linie 2 nach Saarlouis. Ich war noch ganz klein und ich wusste nur: Wenn diese Bahn kommt, steigt meine Mutter ein und ist weg." Das Foto zeigt die Bahn auf ihrer letzten Fahrt im Jahr 1961.
Methoden für mehr Lebenszufriedenheit
"Die Erinnerungs- und Orientierungsfähigkeit ist bei demenzkranken Menschen zuweilen stark eingeschränkt", erklärt der Sprecher der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Hans-Jürgen Freter. "Zunächst ist das Kurzzeitgedächtnis betroffen, das Langzeitgedächtnis bleibt länger erhalten."
In Heimen und Alters-WGs gibt es heute viele Methoden, das Langzeitgedächtnis demenzkranker Menschen zu nutzen - vor allem für mehr Lebenszufriedenheit. In Berlin setzen Heime zum Beispiel bewusst auf das Lieblingsessen aus der Kindheit ihrer demenzkranken Bewohner. Es gibt Grießbreitage und Zwiebackauflauftage.
Gesungen werden auch die Wanderlieder aus der Jugendzeit. Und im Fernsehen laufen die Lieblingssendungen aus den 60er Jahren als Konserve. Eine Zigarette ist auch mal erlaubt, wenn Pfleger dabei sind. Aber vor allem bitten viele Demenz-Pflegeeinrichtungen die Angehörigen heute um genaue Biografien der betagten Bewohner.
"Sie haben die Kinder umgebracht", sagt in einem Berliner Pflegeheim eine alte Dame plötzlich. "Sind alle tot." - "Ja, das ist wirklich schlimm mit den Kindern", sagt die Pflegeschwester. Denn sie weiß aus dem Biografie-Ordner, dass die Bewohnerin als junge Frau im Zweiten Weltkrieg die Bombardierung eines Mutter-Kind-Heims mit ansah.
Jährlich fast 300.000 Neuerkrankungen
In Deutschland leben nach Angaben der Gesellschaft mehr als 1,4 Millionen Demenzkranke. Jedes Jahr gibt es bundesweit fast 300.000 Neuerkrankungen - mehr als Sterbefälle. Das Risiko, zu erkranken, nimmt mit dem Alter zu: Während nur ein Prozent der 65-Jährigen demenzkrank ist, sind es bei den 80-Jährigen bereits 20 und bei den 90-Jährigen sogar 30 Prozent. Das Problem wächst in einer alternden Gesellschaft.
Heute weiß man, dass Demenz den Intellekt eines Menschen zerstört - aber nicht seine Gefühlswelt. Auf der emotionalen Schiene ließen sich Demenzkranke fast immer erreichen, sagen Pfleger. Schmackhaftes Essen, Berührungen, Streicheln, sanfte Stimmlagen, das alles macht es leichter. Nachhaken, Widersprechen, Korrigieren - das kann eine explosive Atmosphäre schaffen. Denn Demenzkranke fühlen sich dann verunsichert oder nicht ernst genommen. Manchmal hagelt es Beschimpfungen, die kaum jemand den alten Herrschaften zutrauen würde.
In Schwalbach ist es der Heimleitung wichtig, dass jemand vom Personal mit dabei ist, wenn die Demenzkranken die historischen Fotos genauer betrachten. Damit Gespräche entstehen. Im Idealfall würden Gedächtnis, Erinnerungen und Gefühle gleichzeitig angesprochen, sagt Experte Freter von der Alzheimer-Gesellschaft. Eine Atmosphäre zum Wohlfühlen.
Von Jenny Kallenbrunnen (dpa)