Theologe Albert Gerhards über 50 Jahre Liturgiekonstitution

"Austausch zwischen Mensch und Gott"

Veröffentlicht am 04.12.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Bild: © KNA
Liturgie

Bonn ‐ Am 4. Dezember 1963 wurden beim Zweiten Vatikanischen Konzil die Grundlagen für die Liturgiereform geschaffen. Der Theologe Albert Gerhards spricht im Interview über 50 Jahre Liturgiekonstitution.

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Gottesdienste in der Muttersprache und zur Gemeinde hin gerichtet: Vor 50 Jahren wurden die Grundlagen für die Liturgiereform geschaffen. Am 4. Dezember 1963 verkündete Papst Paul VI. den ersten Beschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Konstitution "Sacrosanctum concilium". Der Bonner Liturgieprofessor Albert Gerhards (62) ordnet das Dokument ein und spricht über die sogenannte Alte Messe, aktive Teilnahme sowie das neue Gotteslob.

Frage: Professor Gerhards, wie schätzen Sie die Bedeutung der Liturgiekonstitution ein?

Albert Gerhards: Das Dokument ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat eine Vorgeschichte, die mindestens ein halbes Jahrhundert zurückreicht. Die moderne Liturgische Bewegung hat etwa seit 1910 vieles von dem vorgedacht, was das Konzil festgeschrieben hat. Manches davon wurde schon von den Päpsten Pius X. und Pius XII. vorweggenommen. Das erklärt auch, warum die Liturgiekonstitution als erstes Dokument von den Konzilvätern verabschiedet werden konnte: Die Vorarbeit war sehr weit gediehen.

Frage: Der Grund für die Veränderungen war, dass die Liturgie die Menschen nicht mehr erreichte. Hat sich das mit "Sacrosanctum Concilium" geändert?

Gerhards: Die Frage ist, was man mit der Liturgie erreichen kann. Die Meinung, dass man nur durch eine Übersetzung der lateinischen Texte in die Landessprache die Menschen in Scharen zum Kirchgang bewegt, war eine naive Fehleinschätzung. Schon der Theologe Romano Guardini (1885-1968) fragte: "Wie ist der Mensch beschaffen und wie muss ich die Liturgie gestalten, dass sich dieser Mensch dort wiederfinden kann?" Und diese Frage ist bis heute nicht beantwortet.

„Es geht darum, dass Liturgie nicht als 'ästhetisches Schmankerl' stattfindet, sondern in einen lebendigen Vollzug von Gemeinde eingebettet ist.“

—  Zitat: Albert Gerhards

Frage: Wie meinen Sie das?

Gerhards: An vielen Orten wird hervorragend Messe gefeiert. Es geht darum, dass Liturgie nicht als "ästhetisches Schmankerl" stattfindet, sondern in einen lebendigen Vollzug von Gemeinde eingebettet ist. Das sagt die Konstitution selber: Liturgie ist in Verbindung mit Glaubenszeugnis und Diakonie der Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft. Es kommt darauf an, wie die Gottesdienstfeier vor Ort vollzogen wird. Die Kirchenleitung kann die Rahmenbedingungen dafür geben - und das hat sie mit der Liturgiekonstitution hervorragend gemacht. Das Dokument ist aber immer noch nicht ausgeschöpft.

Frage: Stimmt die immer wieder geäußerte Kritik, dass die Liturgie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verflacht sei? Und wenn nein, was kann man den Kritikern entgegnen?

Gerhards: Diese Kritiker können nur zu jung sein, um es miterlebt zu haben oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis. Ich habe die alte Form des römischen Ritus noch als Messdiener erlebt und dann auch erfahren, dass nach der Reform eine große innere Anteilnahme bei den Menschen da war und noch ist. Es wird ja nur so getan, als sei früher flächendeckend immer die großartige Liturgie gefeiert worden. Das ist nicht der Fall.

Bild: ©Privat

Albert Gerhards ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

In den 1950er Jahren waren die lateinischen Hochämter die am wenigsten besuchten Messen. Die Menschen gingen in die Gemeinschaftsmessen, bei denen deutsche Kirchenlieder gesungen wurden. Es gab vor dem Konzil längst deutsche Liturgie, nur musste der Priester parallel dazu alle lateinischen Texte beten. Die Liturgiereform war im deutschen Sprachgebiet gar kein so großer Einschnitt. Und worüber sich die Traditionalisten heute aufregen, dass etwa bestimmte Priestergebete abgeschafft worden sind, davon haben die Menschen damals nichts zu Gehör bekommen.

Bei diesem Thema werden aber oft Äpfel mit Birnen verglichen: Man geht von einem Ideal der alten Liturgie und von einer Karikatur der neuen aus. Die Liturgie ist heute so gut, wie sie gefeiert wird. Im Messbuch gibt es für alle Sonn- und Feiertage die lateinischen Messformulare, und auch der Gregorianische Gesang ist nicht abgeschafft worden. Im Gegenteil: In meiner Jugend wurde der Choral grauenhaft gesungen, und seitdem gab es eine Renaissance der Gregorianik in Wissenschaft und Praxis. Der Gregorianische Choral wurde wohl seit der Karolingerzeit nie so gut gesungen wie jetzt. Und auch der andere Schatz an mehrstimmiger Kirchenmusik ist noch da.

Frage: Warum hat dann Papst Benedikt XVI. 2007 mit dem Motu proprio "Summorum Pontificum" die außerordentliche Form der Messe gestärkt?

Gerhards: Papst Benedikt XVI. versuchte mit einem weitgehenden Entgegenkommen die Befürworter der alten lateinischen Messe wieder einzubinden, was ja nicht gelungen ist. Der Papst selber war in dieser Frage immer gespalten, er hat ein großes Faible für diese Dinge gehabt, auch weil sein Bruder Georg Ratzinger immer die alte Form vorgezogen hat. Es war ja auch richtig, dass Benedikt uns daran erinnerte, diese Form noch einmal genauer anzuschauen. Wenn man Freiräume einräumt – früher war alles bis ins kleinste Detail festgelegt -, können die auch missbraucht werden. Bei der Liturgiereform der späten 1960er Jahre wurde vieles nicht gesehen. Heute sagen uns die Ritualstudien, dass ein Ritus nur zum geringen Teil durch das Wort wirkt und zum Hauptteil durch Zeichen, Symbole und Handlungen. Und deshalb können wir aus der Distanz von 50 Jahren manches von dem in die Grundform wieder eintragen, das damals im Eifer des Gefechts verloren gegangen ist.

„Das neue Gotteslob ist ein Buch mit sehr vielen neuen und guten Anregungen und Möglichkeiten.“

—  Zitat: Albert Gerhards

Frage: Zum Thema Handeln: Wie wichtig ist es, dass Gottesdienstbesucher auch mitmachen?

Gerhards: Die Liturgie hat zwei Pole: den göttlichen Pol, die Heilsgeschichte mit dem Pascha-Mysterium, Tod und Auferstehung Jesu, und die tätige Teilnahme seitens der Menschen, die aber nicht aktionistisch gemeint ist. Der Weltkatechismus betont, dass die Gemeinde das heilige Geschehen trägt, und das muss auch zeichenhaft zum Ausdruck kommen. Das ist eine Bedingung, die manchen Menschen, für die eher die kulturelle Institution Liturgie im Zentrum steht, ein Dorn im Auge ist. Sie wollen die Liturgie eher über sich ergehen lassen und sich nicht wirklich hineinnehmen lassen in dieses heilige Geschehen. Gottesdienst ist ein Austausch zwischen Mensch und Gott, in dem jeder und jede selbst gefordert ist im Bekenntnis und in Akten der liturgischen Teilnahme.

Frage: Wie schätzen Sie das neue Gotteslob für die Liturgiefeier des frühen dritten Jahrtausends ein?

Gerhards: Es ist ein großer Wurf! Der einzige Wermutstropfen für mich ist, dass die neue, viel bessere Psalmenübersetzung noch nicht drin ist, aber vielleicht wird das noch nachgebessert. Insgesamt ist das ein gewaltiger Schritt. Man hat aus den Schwächen des ersten Gotteslob – das insgesamt auch gut war – gelernt. Es ist ökumenischer, vielfältiger und mit Volksliedgut wie "Der Mond ist aufgegangen" eine Art "katholisches Hausbuch" geworden. Das neue Gotteslob ist ein Buch mit sehr vielen neuen und guten Anregungen und Möglichkeiten.

Das Interview führte Agathe Lukassek

Hintergrund

Die wohl einschneidendste Veränderung im Leben der katholischen Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg jährt sich zum 50. Mal. Am 4. Dezember 1963 verkündete Papst Paul VI. die Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium". Das Dokument schrieb die Grundlagen für eine Reform der Messfeier sowie anderer gottesdienstlicher Riten fest.