Kardinal Rosa Chavez über El Salvador: "Dieses Land gehört uns allen"
Kardinal Gregorio Rosa Chavez (76) spricht im Interview über den salvadorianischen Nationalhelden und Heiligen Oscar Romero, die aktuelle politische Lage in Lateinamerika und über den Massenexodus aus seiner Heimat gen USA. Das kleinste Land Mittelamerikas steht im Mittelpunkt der diesjährigen Misereor-Fastenaktion. Zur bundesweiten Eröffnung in Köln am Sonntag wird Rosa Chavez nach Deutschland reisen.
Frage: Herr Kardinal, Ihr Heimatland stehe in Flammen, haben Sie gesagt. Warum ist das so?
Gregorio Rosa Chavez: Das hat unter anderem zu tun mit einer extremen Armut, mit Gewalt und Ungerechtigkeit.
Frage: Was muss sich ändern?
Rosa Chavez: Man muss zuerst den Brand löschen. Das bedeutet, die Gewalt, die uns als Land, als Familie und als Menschen zerstört, mit Dialog zu überwinden. Als Nächstes muss man den Opfern helfen, die Menschen müssen aus der Armut herauskommen, sie müssen arbeiten und studieren können, damit sie wieder ins Leben zurückfinden. Schließlich gilt es, die strukturellen Ursachen für die Probleme in El Salvador anzugehen.
Frage: Das Erbe des Bürgerkrieges, der zwischen 1980 und 1992 rund 75.000 Menschen das Leben kostete, scheint immer noch spürbar.
Rosa Chavez: Der Krieg hat uns einen Friedensprozess hinterlassen, mit neuen Institutionen. Wir lernen noch, mit dieser neuen Wirklichkeit zu leben. Wir müssen uns um diese Institutionen kümmern, die es uns ermöglichen, die Probleme friedlich zu lösen, wenn wir nicht in einen neuen Krieg versinken wollen. Es mag Spannungen geben, Konflikte, aber wenn wir es schaffen, uns auf gemeinsame Ziele zu verständigen, werden sich die Dinge ändern. Dazu müssen alle beitragen: die Kirche, der Staat und die Menschen vor Ort. Damit wir zusammen von einem Land träumen können, so wie es Gott sich vorgestellt hat: ein Land, in dem Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Friede herrschen.
Frage: Anfang Februar hat El Salvador den 37-Jährigen Nayib Bukele zum Präsidenten gewählt. Noch ist wenig bekannt über sein Programm.
Rosa Chavez: Von seiner Politik wird viel abhängen. Übrigens auch, ob die soziale Arbeit der Kirche Ergebnisse bringt. Aber davon unabhängig müssen wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Dieses Land gehört uns allen.
Frage: Trotzdem verlassen täglich Frauen, Männer und Kinder El Salvador, weil sie hier keine Perspektive mehr für sich sehen. Zuletzt sorgten die Migrantenkarawanen, die aus Mittelamerika Richtung USA zogen, weltweit für Schlagzeilen.
Rosa Chavez: Ich habe vor einigen Monaten einen deutschen Journalisten getroffen, der einen dieser Flüchtlingszüge begleitet hat. Er sprach davon, wie sehr ihn der Glaube, die Kampfkraft und die Hoffnung der Menschen überrascht haben. Die Salvadorianer sind ein Volk, das sich aufmacht, das Risiken eingeht, das sogar bereit ist zu sterben, um etwas Besseres für sich zu erreichen.
Frage: Aber wie lange kann ein Land einen solchen Massenexodus verkraften?
Rosa Chavez: Die Migrantenkarawane hat uns noch einmal die Augen geöffnet und der Welt unsere Nöte offenbart. El Salvador bietet seinen Söhnen und Töchtern keine Sicherheit, Frieden, Entwicklung, Arbeit oder Chancen. Das zwingt uns dazu, einen Wandel von der Wurzel her einzuleiten.
Frage: Viele Staaten Lateinamerikas stecken derzeit in einer Krise - unterdessen treibt US-Präsident Donald Trump seine Pläne zum Bau einer Mauer voran, die Migranten daran hindern soll, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren. Was empfinden Sie angesichts dieser Entwicklung?
Rosa Chavez: Die Zeiten sind sehr schlecht für Lateinamerika, wir erleben eine schwierige Phase. Es schmerzt vor allem, wie sehr die einfachen Menschen unter den Folgen leiden. Papst Franziskus hat zu den Jugendlichen beim Weltjugendtag in Panama noch einmal gesagt: Baut keine Mauern, sondern Brücken.
Frage: Trumps Mauer löst die Probleme nicht...
Rosa Chavez: Es gibt auch Mauern in Lateinamerika, politische, wirtschaftliche, soziale und ideologische. Die müssen wir einreißen und Brücken der Brüderlichkeit bauen.
Frage: El Salvador ist Beispielland der diesjährigen Fastenaktion des Hilfswerks Misereor. Was kann eine solche Unterstützung aus Deutschland bringen?
Rosa Chavez: Kampagnen wie die Fastenaktion sind sehr wichtig. Denn sie zeigen uns: Wir sind nicht allein in unserem Kampf für die Würde und Entwicklung der Menschen.
Frage: Wie bewerten Sie Deutschlands Rolle in El Salvador auf politischer Ebene?
Rosa Chavez: Deutschland war sehr wichtig für uns auf dem Weg zum Friedensprozess. Wir brauchen Deutschland auf diplomatischer Ebene und auf Ebene der Entwicklungszusammenarbeit, damit unser Traum von einer anderen Zukunft Wirklichkeit werden kann.
Frage: Sie haben maßgeblich am Heiligsprechungsprozess für den früheren Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, mitgewirkt. Er wurde 1980, zu Beginn des Bürgerkriegs, auf Betreiben der Militärjunta ermordet. Was bedeutet Ihnen dieser Mann?
Rosa Chavez: Romero ist eine sehr umstrittene Figur gewesen. Ein Prophet, der im eigenen Land kaum Gehör fand - genau wie Jesus. Jetzt, nachdem Papst Franziskus ihn im vergangenen Herbst heiliggesprochen hat, entdecken wir erst, was für ein Mensch er war. Er hat sein Leben für das Volk gegeben um der Liebe Gottes willen. Und er ist der Mann, der uns als Land einen wird.
Frage: Wie soll das gehen?
Rosa Chavez: Man kann diesen Prozess bereits spüren. Romero hatte so viele Feinde, die jetzt an seinem Grab und am Ort seines Martyriums um Vergebung bitten, die zugeben, dass sie sich geirrt haben. Ich glaube, dass dadurch eine Wiederannäherung der salvadorianischen Familie möglich wird. Romero ist unsere Hoffnung.
Frage: Trotzdem - über 25 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs liegt in El Salvador immer noch vieles im Argen. Überwiegt da nicht eher Verzweiflung?
Rosa Chavez: Das Volk in diesem Land ist bewundernswert. Es ist ein Volk mit einem tiefen Glauben, das niemals die Hoffnung verliert.
Von Würde und Wohnen
Giovanni Medardo weiß schon genau, wo später das Schlafzimmer sein wird und der Fernseher steht. "Und hier", er betritt einen etwa neun Quadratmeter großen Raum, "werde ich meine Hängematte anbringen". Durch die zwei Türen könne der Wind "schön durchwehen". Ein schlagendes Argument bei über 30 Grad im Schatten und sengendem Sonnenschein. Giovanni ist nicht der einzige, der in dem kleinen Flecken El Transito, etwa 50 Kilometer nördlich von El Salvadors Hauptstadt San Salvador, sein eigenes Haus baut.
Ein ganzes Dorf legt selbst Hand an: von der Lehmziegel-Produktion, über das Ausheben des Fundaments bis hin zum Dachaufbau - alles schaffen sie hier gemeinsam, im Team. Das schweißt zusammen und lässt Ideen für neue Initiativen reifen. Ganz im Sinne von Fundasal, der Organisation, die das Projekt betreut. Wohnen ist ein Baustein für ein Leben in Würde, wie Direktorin Claudia Blanco erläutert. In ganz El Salvador fehle Wohnraum für eine Million Familien, sagt sie. Naturkatastrophen, ein blutiger Bürgerkrieg zwischen 1980 und 1992 sowie Vertreibungen und Dauerkonflikte um Landnutzung seien für diesen Mangel verantwortlich.
"Der Staat tut fast nichts", sagt die 50-Jährige. In den vergangenen Jahrzehnten hätten die Regierungen nie mehr als 0,01 Prozent der Haushaltsgelder in sozialen Wohnungsbau investiert. "0,01 Prozent", wiederholt sie kopfschüttelnd und fügt mit ernster Stimme hinzu: Setze sich diese Entwicklung fort, drohe möglicherweise ein neuer Krieg. "Diese Erfahrung wünsche ich niemandem."
Niemand scheint sich verantwortlich zu fühlen
Ein Sinnbild für das Versagen der Politik steht in der Hauptstadt San Salvador. Dort ragt das Betonskelett eines Hochhauses in den Himmel. Es handelt sich um die Reste des Wirtschaftsministeriums, das 1986 durch ein Erdbeben zerstört wurde. In der Innenstadt soll es 18 weitere ehemalige Regierungsgebäude in einem ähnlichen Zustand geben. Die Ministerien sind längst umgezogen - aber niemand scheint sich für eine neue Nutzung der alten Immobilien und Grundstücke verantwortlich zu fühlen. Obwohl auch in San Salvador der Wohnraum extrem knapp ist. So übernachten manche der schätzungsweise 30.000 fliegenden Händler, die tagsüber die Gassen der Altstadt bevölkern, auf der Straße.
Wer trotzdem ein Dach über dem Kopf hat, muss nicht selten immer wieder darum kämpfen. Am Ufer des Rio Acelhuate im Viertel Los Manantiales kleben Hütten und kleine Häuser am Hang, dazu Bars und Ladenlokale. Pick-ups quälen sich hupend durch die schmalen Gassen, am Straßenrand verkaufen die Bewohner Obst und Maisfladen. Musik und der Geruch von Essen, Hundegebell und das Gackern von Hühnern legen sich über den Alltag der Bewohner, die jeden Morgen neu vor der Herausforderung stehen, irgendwie über die Runden zu kommen.
Im Jahr 1968 zerstörten Unwetter und eine Überschwemmung weite Teile der Armensiedlung - als "Tragödie" hat sich das Ereignis in das kollektive Gedächtnis gegraben. Der Jesuit Antonio Fernandez Ibanez (1933-1999) legte damals den Grundstein für Fundasal. Noch heute leben einige Mitstreiter der "ersten Generation" in den 60 Häusern des von dem Ordensmann konzipierten "Plan Piloto". Eine von ihnen ist die 86-jährige Estebana Calderon. Zusammen mit ihrer Tochter Cecilia lebt sie in einer kleinen Behausung in der Calle Nummer 5.
Sie führt den Besucher durch das schmale Durchgangszimmer, links ein Sofa und eine durch einen Vorhang abgetrennte Schlafgelegenheit, rechts ein Vorratsraum, weiter hinten der Durchgang zur Küche, die teilweise im Freien steht. Senora Calderon ist keine Freundin vieler Worte - doch so, wie sie da steht, klein aber kerzengerade mit wachem Blick und einem Lächeln, zeugt das von Stolz, von Würde. "Hier wohne ich", sagt sie. Kurz zuvor haben sie im Gemeinschaftssaal von den Sorgen um die Zukunft erzählt. Seit Jahren versuche man die Behörden dazu zu bewegen, die Wasserversorgung zu verbessern. Nichts tue sich. Das gefährde den Bestand der Kolonie. Es scheint, als ginge Fundasal die Arbeit so schnell nicht aus.