Weltweit sind zehntausende Kinder als Soldaten im Einsatz

Wenn Täter vor allem Opfer sind

Veröffentlicht am 12.02.2017 um 15:15 Uhr – Lesedauer: 
Konflikte

Goma ‐ Kongo, Somalia, Irak, Syrien: Noch immer werden weltweit zehntausende Kinder als Soldaten missbraucht. Der "Red-Hand-Day" am 12. Februar soll daran erinnern. Denn ihr Weg in ein normales Leben ist lang.

  • Teilen:

Die schlecht genähte Narbe quer über Josephs Bauch ist etwa 20 Zentimeter lang, sie sieht aus wie ein grober Reißverschluss. Der zehnjährige Kindersoldat im Kongo hatte Glück im Unglück: Er wurde während eines Gefechts von zwei Kugeln getroffen, deswegen ließen ihn seine Peiniger - eine islamistische Miliz - zum Sterben zurück. Soldaten retteten ihn. "Eine Kugel war noch in meinem Bauch. Sie musste gefunden und rausgenommen werden", erinnert sich der Junge.

Wie Joseph stehen weltweit nach UN-Schätzungen Zehntausende Kinder im Dienst bewaffneter Gruppen. Betroffen sind zum Beispiel der Kongo, die Zentralafrikanische Republik, der Südsudan, Somalia sowie Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. "Kindersoldaten sind ein Symptom gescheiterter Staaten und Gesellschaften", erklärt Oliver Müller, Leiter von Caritas international, anlässlich des Tags des Kampfes gegen den Einsatz von Kindersoldaten an diesem Sonntag.

Kinder werden zu Tätern gemacht

Die Kinder werden zu Tätern gemacht: sie foltern Gefangene, erschießen Angreifer und vergewaltigen Dorfbewohnerinnen. Und doch sind sie vor allem Opfer: Sie werden ihrer Kindheit beraubt. Durch ihre Taten und das, was sie mit ansehen müssen, bleiben sie für den Rest ihres Lebens traumatisiert. "Sie wissen: was sie als Soldaten tun, ist unmenschlich und brutal", erklärt Ekkehard Forberg, Experte der Hilfsorganisation World Vision. "Und sie glauben, es sei ihre Schuld. Diese gefühlte Schuld werden sie nicht mehr los."

Joseph wurde als Siebenjähriger von seinem Onkel entführt und der islamistischen Miliz ADF-Nalu im Ost-Kongo übergeben. "Ich musste zusehen, wie sich Menschen gegenseitig getötet haben", erinnert er sich. Joseph war damals noch so klein, dass er noch nicht kämpfen musste. Doch wann immer es Kämpfe gab, musste er als Munitionsträger mit an die Front.

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Die Milizen im Ost-Kongo sind brutal. Wenn ein Kind zu fliehen versucht, wird es getötet. Und je mehr Verbrechen ein Kind im Namen der Miliz begangen hat, desto größer ist die Scham, die eigene Familie wiederzusehen, desto geringer das Fluchtrisiko. Die Miliz habe "allen beigebracht, mit Kalaschnikows zu schießen", erinnert sich der 16-jährige Eric. Er vergräbt den Kopf in seiner Hand: "Auch ich habe auf Menschen geschossen." Jeder habe Angst gehabt. "Wenn Du einen Befehl verweigerst, dann wirst Du erschossen."

Das Leben in einer Miliz ist für Joseph und Eric vorbei, sie befinden sich jetzt im sicheren Hafen eines "DDR"-Programms. Die Abkürzung steht für "Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration" ("disarmament, demobilization, reintegration") früherer Kindersoldaten. Sie sind für mehrere Monate in einem Heim des UN-Kinderhilfswerks Unicef in der Stadt Goma. Dort lernen sie ordentlich Lesen und Schreiben, tauschen sich mit Leidensgenossen aus und bekommen Therapien. "Die psychologische Unterstützung hat mir geholfen, keine Alpträume mehr zu haben", sagt Eric.

Genau weiß niemand, wie viele Kinder weltweit von bewaffneten Gruppen missbraucht werden. Im Ost-Kongo hat Unicef seit 2003 etwa 10.000 früheren Kindersoldaten bei dem Weg zurück in ein normales Leben geholfen. Die Caritas hat dort mit Unterstützung des katholischen Hilfswerks missio ebenfalls fast 9.000 früheren Kindersoldaten geholfen. Im Südsudan wurden laut Unicef seit Beginn des Bürgerkriegs Ende 2013 rund 16.000 Kinder zwangsrekrutiert. Die Konflikte in Syrien und im Jemen sind so unübersichtlich, dass niemand schätzen kann, wie viele Kinder betroffen sind.

Das Unicef Transitzentrum für ehemalige Kindersoldaten in der ostkongolesischen Stadt Goma.
Bild: ©picture alliance / Jürgen Bätz/dpa

Das Unicef Transitzentrum für ehemalige Kindersoldaten in der ostkongolesischen Stadt Goma.

"Aie! Aie! Isso!", schreit der Capoeira-Lehrer Ninja zum Start. Die früheren Kindersoldaten aus dem Unicef-Heim in Goma beginnen ihre akrobatischen Bewegungen, begleitet von Trommelmusik. Sie trainieren Capoeira, eine brasilianische Kampfkunst afrikanischen Ursprungs. Es sieht ein bisschen aus wie rhythmisches Kung Fu, nur besteht die Kunst darin, den Gegner nie zu berühren. Capoeira lehrt die Kinder, Aggressionen zu kontrollieren und als Team zu arbeiten.

Im Gespräch sind frühere Kindersoldaten zurückhaltend, sprechen oft mit leiser Stimme und schämen sich ihrer Vergangenheit. Während des Capoeira-Trainings sprühen sie jedoch nur so vor Stolz. "Wir üben zwei Mal die Woche", sagt ein Junge triumphierend. Für das Training verlassen sie das mit Stacheldraht geschützte Unicef-Zentrum. An den Proben nehmen auch Kinder aus dem Stadtviertel teil. Das ist für die früheren Kindersoldaten ein wichtiger Schritt, sie haben erstmals wieder normalen Kontakt zu Gleichaltrigen.

Traumatische Vergangenheit steht Zukunft im Weg

Mädchen werden von bewaffneten Gruppen oft als Sexsklavinnen gehalten. Florence etwa war 13 Jahre alt, als sie zum ersten Mal vergewaltigt wurde. "Ich habe versucht, mich mit aller Kraft zu wehren", erinnert sie sich. "Aber der Kommandeur hat mich mit einem Gewehr geschlagen und gesagt, ich solle still sein oder er würde mich erschießen." Sie wurde aus ihrem Dorf im Norden Ugandas von einer Miliz in den heutigen Südsudan entführt.

Als sie wieder nach Hause kam, als Mutter von sechs Kindern, wurde sie von ihrer Familie als Rebellenbraut abgelehnt. Eines Nachts stachen ihre Brüder auf sie ein und hackten ihre rechte Hand ab. Die heute 27-Jährige überlebte und wird in Uganda von World Vision unterstützt. "Nach meiner Flucht vor den Rebellen dachte ich, dass ich in Sicherheit wäre." Doch die traumatische Vergangenheit steht ihrer Zukunft im Weg. "Ich denke oft, dass ich nicht mehr leben will. Aber was würden meine Kinder ohne mich machen?"

Von Jürgen Bätz (dpa)