Kiews Großerzbischof über die Lage in der Ukraine

"Wir brauchen die Unterstützung"

Veröffentlicht am 22.03.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Ukraine

Vatikanstadt ‐ Der Bürgerkrieg in der Ukraine trennt auch die Konfessionen. Im Interview spricht der katholische Großerzbischof von Kiew über die Situation vor Ort, die Ökumene und die Bedeutung des Papstes.

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Der Großerzbischof von Kiew, Swjatoslaw Schewtschuk, ist Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine. Im Interview spricht er über die aktuelle Lage in seinem Land, die Unterstützung durch den Papst und über Schwierigkeiten im ökumenischen Dialog mit den orthodoxen Kirchen.

Frage: Herr Großerzbischof, wie ist derzeit die Lage in der Ukraine?

Schewtschuk: Das ist eine schwierige Frage. Zunächst ist festzuhalten, dass unser Land Opfer einer ausländischen Aggression ist. Die Ukraine ist Opfer eines Krieges, der nicht aufhört und ständig aufs Neue Schmerz, Opfer und Leiden bringt. Die innenpolitische Situation in der Ukraine ist derzeit merkwürdig. Wir selbst verstehen sie nicht ganz. Einerseits wurden von der Regierung Reformen durchgeführt. In den vergangenen zwei Jahren wurde das nachgeholt, was man in den vorherigen 25 Jahren nicht gemacht hat. Das große Problem in der Ukraine ist jedoch weiterhin die Korruption, die de facto zu einem Regierungsmechanismus geworden ist.

Viele Menschen fragen sich, was sie tun sollen, um diese Situation zu ändern. Aber es fehlt an Kommunikation zwischen staatlichen Stellen, Politikern und Bürgern. Die Kirchen versuchen, eine Plattform für einen Dialog zu schaffen, damit die ganze Gesellschaft ein Projekt zum Aufbau eines europäischen Staats vorantreibt.

Frage: Die russisch-orthodoxe Kirche ist Ihre Nachbarin. Wie sehen Sie die gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und dem Moskauer Patriarchen Kyrill I.?

Schewtschuk: Nach der gemeinsamen Erklärung von Papst Franziskus und dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. von Havanna im Februar 2016 gab es in der Ukraine eine große Diskussion. Sowohl unter unseren Gläubigen als auch unter den Orthodoxen in der Ukraine stieß sie überwiegend auf Ablehnung. Bis jetzt fällt es vielen schwer, bestimmte Punkte der Erklärung nachzuvollziehen. Einige führende Vertreter der Orthodoxen Kirche des Russischen Patriarchats haben sich gegen diese Erklärung ausgesprochen. Das heißt, sie bleibt ohne jeglichen Einfluss auf das reale Leben und das ökumenische Gespräch vor Ort.

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Obwohl offiziell Waffenruhe gilt, herrschen im Osten der Ukraine Chaos und Gewalt. Bischof Stephan Ackermann ist Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax, einer Einrichtung der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, zur Förderung von Entwicklung und Frieden. Für den Bischof ist klar, dass es einen langen Atem und viel Geduld braucht, bis der Konflikt im Land überwunden ist, erzählt er im Interview. (Interview vom Februar 2015)

Frage: Wie wird die Rolle von Papst Franziskus und des Vatikan in der Ukraine gesehen?

Schewtschuk: Wir brauchen die Unterstützung des Heiligen Stuhls. Die Leute müssen spüren, dass der Heilige Stuhl und der Heilige Vater auf der Seite der Leidenden sind. In mehreren Begegnungen mit dem Papst konnte man spüren, dass Franziskus sich wenig für geopolitische oder diplomatische Aspekte interessierte. Ihm geht es um die konkreten Menschen. Sein Interesse ist seelsorglich: Wie kann man diesen Menschen helfen? Als ich den Papst mit der Bischofssynode besucht habe, habe ich ihm gesagt, dass die Menschen in der Ukraine dringend Hilfe bräuchten. Möglicherweise hat das den letzten Ausschlag für die Kollekte gegeben. Wichtig für uns war der Besuch von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin in der Ukraine im Juni 2016. Das hat einerseits ein Gefühl geschaffen, dass der Papst mit den Ukrainern solidarisch ist, und dass er sie als Opfer einer ungerechtfertigten Aggression sieht.

Andererseits hat der Papst mit seiner Kollekte und seinen Äußerungen zur Ukraine das Tabu der Massenmedien gebrochen, über die Ukraine zu berichten. Vielleicht bestand so gar darin die größte Hilfe, die wir in der Ukraine aus Europa erfahren haben. Seine Kollekte hat in Europa viele Menschen aufgeweckt. Bischofskonferenzen haben uns nach der gegenwärtigen Lage gefragt und wollten Informationen. Auch die ersten Projekte, die mit dem Geld aus der Kollekte (etwa 15 Millionen Euro) finanziert werden, haben begonnen.

Frage: Wie ist die Lage der griechisch-katholischen Kirche auf der Krim und im Donbas?

Schewtschuk: Die Situation auf der Krim und im Donbass ist sehr unterschiedlich. Auf der Krim gibt es einen Staat, der das Territorium übernommen hat, auch wenn weder die internationale Gemeinschaft noch die Ukraine die Annexion anerkennen. Mit einigen Anstrengungen haben wir es mit vatikanischer Unterstützung geschafft, dass unsere Gemeinden auf der Krim von Moskau neu registriert und damit rechtlich anerkannt wurden.

Im Donbass sieht die Lage anders aus. Dort gibt es keine Ordnungsmacht, die Sicherheit garantiert. Unsere Priester befinden sich daher jeden Tag in Todesgefahr. Viele unsere Gläubigen sind geflohen. Im vergangenen Jahr hat auch die sogenannte Volksrepublik Donezk ein Gesetz verabschiedet, das alle Kirchen und religiösen Gemeinschaften zwingt, sich neu registrieren zu lassen.

Von Nataliya Karfut (KNA)

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Die eine Kirche Christi tritt in verschiedensten Formen auf, etwa in den orthodoxen und orientalischen Kirchen. Wir erklären das katholische Verständnis von "Kirche", was das für die Ökumene bedeutet und stellen unterschiedliche Traditionen vor. (Artikel vom Dezember 2015)