Caritas-Präsident Peter Neher im Gespräch mit katholisch.de

Von Konvertiten, Abschiebungen und Diktaturen

Veröffentlicht am 12.07.2017 um 15:00 Uhr – Lesedauer: 
Hilfswerke

Bonn ‐ Heute wurde der Jahresbericht von Caritas international vorgestellt. Katholisch.de hat mit Caritas-Präsident Peter Neher über Hilfe für Nordkorea und Asylverfahren von konvertierten Flüchtlingen gesprochen.

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Frage: Herr Neher, über Asylanträge von Afghanen gibt es derzeit einen Entscheidungsstopp: Nach den schweren Anschlägen in Afghanistan will das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erst eine Neubewertung der Lage abwarten. Was halten Sie von diesem Vorgehen?

Peter Neher: Diesen Schritt des Bundesamtes unterstützen wir. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist unübersichtlich und sehr kurzfristigen Änderungen unterworfen. Dies spiegelt sich in unterschiedlichen Berichten und individuellen Einschätzungen der Situation vor Ort wider. Abschiebungen nach Afghanistan würden die Menschen derzeit unüberschaubaren Risiken aussetzen. In Afghanistan herrscht seit 40 Jahren Krieg. Dieser Krieg gehört aktuell zu den vier gewalttätigsten Konflikten weltweit. 11.500 Afghanen wurden im vergangenen Jahr getötet oder verletzt – ein zuvor nie erreichter trauriger Rekordwert. Jedes dritte Opfer war ein Kind. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat sich aufgrund der Kämpfe seit 2014 verdreifacht. Wir haben es also unübersehbar mit einer kontinuierlichen Verschlechterung der Sicherheitslage zu tun. Der verheerende Anschlag nahe dem Botschaftsgelände vom 31. Mai dieses Jahres, der in Deutschland für viel Aufsehen gesorgt hat, war insofern nur ein weiterer trauriger Vorfall einer Kette von seit Jahren nicht abreißenden schlechten Nachrichten.

Frage: Wie bewertet Caritas international die Lage in Afghanistan?

Neher: Nach den vielen Jahrzehnten Krieg sind Industrie und Infrastruktur stark zerstört, Afghanistan zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Mit dem Abzug der internationalen Truppen musste das Land zudem einen immensen Wirtschaftseinbruch hinnehmen. Die Arbeitslosigkeit liegt laut den neusten verfügbaren Statistiken bei 40 Prozent. Zusätzlich strömen jedes Jahr Hunderttausende junge Menschen neu auf den afghanischen Arbeitsmarkt. Die ohnehin schon dramatische Lage hat sich durch über 600.000 Rückkehrer aus Pakistan im Jahr 2016 noch verschlimmert. Angesichts dieser extrem schwierigen Lage können und dürfen wir das Land nicht alleine lassen, sondern müssen uns weiter mit Bedacht dafür einsetzen, dass die Menschen vor Ort eine Perspektive und Zukunft erhalten.

Prälat Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, sitzt am 03.02.2013 in Berlin im Gasometer in der ARD-Talkreihe "Günther Jauch".
Bild: ©picture alliance / dpa

Prälat Peter Neher ist Präsident des Deutschen Caritasverbandes.

Frage: Vor den Anschlägen hieß es immer wieder, das Land sei sicher genug, um Asylbewerber dorthin abzuschieben. Was erwartet die "Rückkehrer" in ihrem Land?

Neher: Die Trends bezüglich Sicherheits- und Wirtschaftslage verstärken sich leider gegenseitig in negativer Weise. Die Sicherheitslage ist unüberschaubar. In Afghanistan herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, an dem sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Akteure beteiligt sind. Möglichen Investoren fehlt aufgrund dieser Situation das Vertrauen, Geld in die Hand zu nehmen und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit ist deshalb wie gesagt sehr hoch. Wenn es aber keine Arbeitsplätze und Perspektiven für die Bevölkerung gibt, werden die Gebiete anfälliger für Taliban und andere Gruppen, die nicht daran interessiert sind, dass das Land sich gut entwickelt.

Frage: Was macht man mit afghanischen Asylbewerbern, die hier straffällig geworden sind?

Neher: Diese Frage steht ja im Fokus, seit der faktische Abschiebstopp der letzten zehn Jahre im vergangenen Jahr aufgehoben worden ist. Seitdem wird immer wieder besonders betont, dass in den Abschiebeflügen insbesondere Straftäter säßen. Der in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistete Schutz vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ist aber auch von Deutschland zu gewähren. Eine drohende Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist in Afghanistan nämlich derzeit hinreichend konkret. Eine Abwägung mit den staatlichen Sicherheitsinteressen schließt der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bei entsprechender Gefährdungslage ausdrücklich aus. Der Abschiebungsschutz muss deshalb nach Auffassung des Deutschen Caritasverbandes grundsätzlich auch Straftäter, Gefährder und Menschen umfassen, die eine Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung verweigert haben, sofern ihnen eine unmenschliche Behandlung im Zielstaat droht.

Frage: Viel diskutiert wurde auch um Asylverfahren von Konvertiten. Es gibt Berichte, nach denen zum Christentum übergetretene Asylbewerber in Anhörungen zu Glaubensinhalten befragt wurden, um die Ernsthaftigkeit ihres Übertritts zu überprüfen. Welche Berichte liegen Ihnen vor?

Neher: Es ist wichtig zu wissen, dass es sich hierbei um kein Massenphänomen handelt. Für die katholische Kirche werden lediglich die erfolgten Erwachsenentaufen erfasst. Diese Zahlen bewegen sich seit Jahren auf gleich niedrigem Niveau. Jeder Taufe geht dabei ein längeres, in der Regel ein Jahr dauerndes Katechumenat voraus. Auch nach Abschluss dieses Verfahrens und der Taufe durchlaufen die Personen selbstverständlich ein reguläres Asylverfahren, in dessen Verlauf geprüft wird, ob ein Fluchtgrund bzw. Verfolgungsgefahr vorliegt. Die Konversion spielt daher selbstverständlich auch in der Befragung eine Rolle. Eine Konversion allein allerdings begründet keinen Anspruch auf Asyl. Generell ist die Befragung nach Glaubensinhalten durch das Bundesamt schwierig. Es besteht die Gefahr, dass formalistisch Faktenwissen abgefragt wird. Aus unserer Sicht scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Motive, die zu einer Konversion führen, vielfältig sind. Bei deren Bewertung muss die Herkunft, der Bildungsgrad und das Religionsverständnis der Betroffenen berücksichtigt werden.

„"Dass es in Nordkorea viele Kinder, Senioren und Kranke gibt, die der Hilfe dringend bedürfen, daran bestehen für mich nach unserer Reise weniger Zweifel denn je."“

—  Zitat: Peter Neher

Frage: Wie bewerten Sie dieses Vorgehen der Ämter?

Neher: Pauschale Aussagen zum Vorgehen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind aus unserer Sicht nicht möglich – zu unterschiedlich stellt sich der Umgang mit Konvertiten in den jeweiligen Außenstellen dar. Wir wünschen uns einen sensiblen Umgang der Behörden, welcher der schwierigen Situation für Schutzsuchende in dieser Situation gerecht wird und die inneren Beweggründe für die Konversion berücksichtigt. Verschiedene Gespräche mit der Leitung des Bundesamts haben gezeigt, dass man sich dort der Sensibilität des Themas bewusst ist. 

Frage: Was könnte man unternehmen, um Zweifel an der Ernsthaftigkeit einer Konvertierung auszuräumen? Gibt es etwas, das Sie sich von den Kirchen zu diesem Punkt wünschen würden?

Neher: Es ist sensibel zu beachten, ob die Befrager beziehungsweise Entscheider selbst dem Islam angehören, welche über die Glaubwürdigkeit einer Konversion zu befinden haben. Wichtig erscheint mir deshalb, dass jemand der die Befragung durchführt und entscheidet, der grundsätzlich einen positiven Zugang zum Christentum hat beziehungsweise genügend Distanz zur eigenen Religion, um eine so persönliche Entscheidung wie eine Konversion angemessen beurteilen zu können.

Frage: Sie selbst haben vor kurzem Nordkorea besucht, wo Caritas international auch Projekte unterstützt. Wie kann man in einem Land, das dermaßen abgeriegelt ist und in dem es dazu noch die stärkste Christenverfolgung weltweit gibt, helfen?

Neher: Bei der Art der Hilfe, wie wir sie leisten, kann man relativ gut sicherstellen, dass der einzelne Hilfsbedürftige profitiert und nicht das Regime. Wenn wir Millionen Kinder gegen Masern  impfen oder Tuberkulose-Kranke behandeln, dann kommt die Hilfe direkt dem einzelnen Menschen zugute. Und das ist gut überprüfbar. Insofern gilt auch in Nordkorea, was weltweit für unsere Hilfsprojekte gilt: Wir sehen die Menschen hinter dem System. Gradmesser unserer Hilfe ist allein die Hilfsbedürftigkeit. Und dass es in Nordkorea viele Kinder, Senioren und Kranke gibt, die der Hilfe dringend bedürfen, daran bestehen für mich nach unserer Reise weniger Zweifel denn je.

Nordkoreanische Frauen bei einem Gottesdienst in einer Kirche in Pjöngjang.
Bild: ©picture-alliance / EPA/KCNA

Nordkoreanische Frauen bei einem Gottesdienst in einer Kirche in Pjöngjang.

Frage: Besteht nicht die Gefahr, durch diese Projekte die Diktatur zu unterstützen? Welche Kompromisse ist Caritas international bereit, einzugehen?

Neher: Dass unsere Hilfe gezwungenermaßen indirekt auch dem Systemerhalt dienen könnte, weil der Leidensdruck ihrer Bürger gemindert wird, kann niemand, auch wir nicht, ausschließen. Dieses Dilemma gibt es grundsätzlich in der humanitären Hilfe. Dass das Regime in Nordkorea die hauseigenen humanitären Probleme eigentlich lösen müsste, steht für uns auch außer Frage. Allerdings erleben wir in vielen Ländern, in denen wir mit unseren Partnern tätig sind, dass Regierungen diesen Anspruch, das Wohlergehen ihrer Bürger in den Mittelpunkt ihres Tuns zu stellen, nicht erfüllen. Das ist ein Zwiespalt, mit dem wir in der humanitären Hilfe an vielen Orten der Welt leben müssen. Zum Beispiel im Südsudan oder in Syrien. Als nicht-staatliche und politisch neutrale Hilfsorganisation können und müssen wir aber versuchen, unabhängig vom politischen System die Menschen darin zu unterstützen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wahrzunehmen. Und das bedeutet im ersten Schritt zunächst einmal im elementaren Sinne: Frei von Hunger, Krankheit und Armut. Die Alternative zu diesem Handeln würde gegen die konstitutiven Werte unserer christlichen Überzeugung in elementarer Weise verstoßen. Allerdings müssen wir die Arbeit nach unseren Standards bezüglich Transparenz, Kontrolle und Abrechnung von Spendengeldern durchführen und so sicherstellen können, dass Gelder im ordnungsgemäßen Sinn verwendet werden. Sonst müssten wir unsere Arbeit beenden.

Frage: Wie haben Sie persönlich das Land erlebt?

Neher: Es war eine Reise durch eine vergangene Zeit. Vieles erinnerte mich an den Ostblock, die damalige DDR, Polen oder die Sowjetunion der 1970er Jahre. Und auch wenn wir als humanitäre Hilfsorganisation weder den Anspruch noch die Möglichkeiten haben, das System in Nordkorea zu verändern, hegen wir doch die Hoffnung, dass unsere Hilfsprojekte, unsere Kontakte und die Fortbildungen für medizinisches Personal dazu beitragen, einen Dialog zu ermöglichen, Vertrauen aufzubauen und auch ein kleines Fenster zur Welt in einem ansonsten abgeschotteten Land zu sein. Diesen Ansatz gab es schon in den 70er Jahren.

Von Johanna Heckeley