Millionen Syrienflüchtlinge überfordern die Nachbarn

"Wir leben lieber unter Beschuss"

Veröffentlicht am 27.10.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Syrien

Beirut/Istanbul ‐ Als Abu Ahmed vor drei Jahren beschloss, seine achtköpfige Familie aus Syrien in den Libanon zu bringen, dachte er nicht, dass er diese Entscheidung einmal bereuen würde. "Ich habe beschlossen, dass wir wieder zurückgehen . Wir leben lieber unter Beschuss, als dass wir uns wie Gefangene behandeln lassen", sagt der 67-jährige Bauer.

  • Teilen:

Abu Ahmed war mit seiner Familie bereits 2011 geflohen, als sich der Aufstand gegen Präsident Baschar al-Assad in Syrien allmählich zu einem Bürgerkrieg entwickelte. Doch nun leben sie im Libanon unter ständigen Einschränkungen - wie etwa einer Ausgangssperre für Syrer, die in einigen Regionen täglich ab 20.00 Uhr gilt.

Mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) aus Syrien in den Libanon geflüchtet. Das kleine Land mit rund vier Millionen eigenen Einwohnern ist damit überfordert. Da nun auch die Gewalt aus dem Nachbarland zunehmend überschwappt, erhöhten viele lokale Verwaltungen vor einem Monat die Auflagen für Syrer. Zudem beschloss die Regierung auch die Einreise von Flüchtlingen zu beschränken und Syrer nur noch unter "humanitären oder außergewöhnlichen" Voraussetzungen ins Land zu lassen.

Flüchtlingsströme sorgen für Probleme

"Einige Libanesen lassen ihre Wut an uns Flüchtlingen aus, weil Terroristen die Armee angreifen", klagt der Flüchtling Abu Suleiman. "Dabei haben wir Zivilisten nichts mit diesen Terroristen zu tun." Er weist darauf hin, dass Syrien 2006 Tausende libanesische Flüchtlinge aufgenommen habe, als Israel in dem Land Krieg gegen die schiitisch-islamistische Hisbollah-Miliz geführt habe. "Wir haben unsere Häuser für sie geöffnet und keine Ausgangssperren verhängt."

Kinder stehen am 1. Januar 2014 vor einem zerstörten Haus in Aleppo, das nach Angaben der Rebellengruppen durch den Beschuß von Reierungstruppen zerstört worden ist.
Bild: ©KNA

Kinder stehen am 1. Januar 2014 vor einem zerstörten Haus in Aleppo, das nach Angaben der Rebellengruppen durch den Beschuß von Reierungstruppen zerstört worden ist.

Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges nach Regierungsangaben gut 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen - mehr als jedes andere Land. Das beschert der Türkei zunehmend soziale Probleme. Nur eine Minderheit der Hilfesuchenden ist in den 22 Camps untergekommen, die die Regierung errichten ließ. Die meisten Flüchtlinge leben bei Verwandten, mieten Wohnungen, hausen in Ruinen oder auf der Straße - und der Winter naht.

Mietpreise vor allem in Provinzen nahe der Grenze haben sich seit 2011 nach Angaben der International Crisis Group teilweise verdreifacht. Viele Flüchtlinge - darunter auch zahlreiche Kinder - in Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir müssen betteln, um zu überleben. Nach UNHCR-Angaben besuchen 73 Prozent der Flüchtlingskinder außerhalb der Camps in der Türkei keine Schule.

Nachbarländer fordern Unterstützung

Die türkische Regierung fordert - wie auch der Libanon und Jordanien - immer wieder mehr Unterstützung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise durch die internationale Gemeinschaft - von der sie aber außer Lob nicht viel bekommt. "Diese Last wird mit Worten, aber nicht durch Taten gewürdigt", beklagte Außenministers Mevlüt Cavusoglu vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag im britischen "Guardian". Sein Land habe bislang umgerechnet 3,2 Milliarden Euro für die Flüchtlinge ausgegeben. "Und die Türkei kann nicht weiterhin so handeln, als wäre sie die Vereinten Nationen."

Im vergangenen Monat erreichte die Flüchtlingskrise in der Türkei ihren vorläufigen Höhepunkt: Nach Angaben des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan flohen innerhalb weniger Tage rund 200.000 Menschen aus der Region Kobane vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) über die Grenze. Erdogan wird angesichts dieses Ansturms nicht müde zu betonen, dass die gesamte EU weniger syrische Flüchtlinge aufgenommen habe - und zwar seit Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 2011.

Von Von Mey Dudin, Weedah Hamzah und Mirjam Schmitt (dpa)