Wider die Verdrängung
Wir sprechen dann gemeinsam - zusammen mit den Kindern - ziemlich laut ein Vaterunser und ein Ave Maria . Manche der an diesem Tag zahlreich anwesenden Friedhofsbesucher schauen dann pikiert oder zumindest erstaunt zu uns herüber und wundern sich über den frommen Aufruhr am Grab. Sie beten - wenn sie es denn überhaupt tun - zumeist leise und natürlich jeder für sich.
Im vergangenen Jahr war für mich an Allerheiligen etwas anders. Zum ersten Mal tat es nicht mehr so weh, vor dem Grab meiner Mutter zu stehen. Es war - sage und schreibe - 23 Jahre nach ihrem frühen Tod. Eigentlich dürfte ich dies gar nicht erzählen. Denn in unserer Gesellschaft ist Trauer zwar irgendwie erlaubt, aber sie muss sich leise und vor allem zügig abspielen. Der Trauernde hat gefälligst nach einigen Monaten, spätestens aber nach einem Jahr, seine Trauer abzulegen wie einen aus der Mode gekommenen Hut.
Trauer besitzt kein Verfallsdatum
Der Hospizbewegung in Deutschland und der durch sie ins Leben gerufenen Trauergesprächskreise ist es zu verdanken, dass sich hier allmählich etwas zum Besseren wandelt. Erfahrene Trauerbegleiter wissen: Trauer kennt keine Zeiten, besitzt kein Verfallsdatum und kann sich über viele Jahre hinziehen. Eine Witwe wurde über ihre Trauer befragt: "Sind Sie nach so vielen Jahren immer noch traurig über den Tod ihres Mannes?". Sie antwortete: "Ja, ich bin immer noch traurig, denn mein Mann ist immer noch tot."
Zu der Tendenz unserer Gesellschaft, Trauer und Tod ins Abseits zu drängen, passt das katholische Fest Allerheiligen wie die Faust aufs Auge. Und das finde ich wunderbar. Allerheiligen stört, durchbricht die übliche Verdrängung und holt ans Licht der Öffentlichkeit, was 364 Tage lang totgeschwiegen wurde. Zahllose Kerzen, die als "Ewiges Licht" in kleinen Laternen auf den Gräbern brennen, zahllose Blumen und grüne Kranzgebinde erinnern an die urchristliche Hoffnung, dass die Toten keineswegs dem Nichts anheimfallen, sondern in der Ewigkeit Gottes leben und in seiner Gegenwart aufgehoben sind. Zu dieser Hoffnung passt auch der ungewohnte Andrang auf den Friedhöfen, die pralle Präsens der Lebenden bei den Toten.
Streng genommen richtet sich das Allerheiligen-Brauchtum auf den Folgetag, nämlich auf das Fest Allerseelen, den jährlichen Gedenktag für alle Verstorbenen. Im Bewusstsein des Volkes aber sind beide Feste längst zu einer Einheit verschmolzen.
Die Heiligen, das sind wir alle
Allerheiligen, das Sammelfest für alle Heiligen der katholischen Kirche, wurde ursprünglich - etwa ab dem 4. Jahrhundert - in zeitlicher Nähe zu Ostern oder Pfingsten gefeiert. Mit Heiligen meint die Kirche aber nicht nur die vom Kirchenrecht offiziell bestätigten Glaubensvorbilder. Heilige sind vielmehr - mit Blick auf das Neue Testament - "alle Christinnen und Christen, die in Glaube und Taufe durch Jesus Christus und den Heiligen Geist gnadenhaft Anteil haben an der Heiligkeit Gottes". So die Dogmatik. Vereinfacht ausgedrückt: Die Heiligen, das sind wir alle.
Allerseelen, der katholische Gedenktag für alle Verstorbenen, erweist sich damit in letzter Konsequenz auch als ein Fest der Heiligen. Denn als solche darf man die im Glauben Entschlafenen doch mit Fug und Recht bezeichnen. Und ist es nicht, aller Trauer zum Trotz, ein Segen, den Verstorbenen der eigenen Sippe - und seien sie im Leben noch so unzulänglich gewesen - als Heilige begegnen zu dürfen?
Von Silvia Becker