Liturgiewissenschaftler Jürgen Bärsch zur Bedeutung von Allerseelen

Mitten im Leben vom Tod umfangen

Veröffentlicht am 02.11.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Allerseelen

Bonn ‐ Auf der "Solidargemeinschaft" der Lebenden und Toten beruhte der ganze Totenkult des Mittelalters. Die Kirche gedenkt bis heute der verstorbenen Christen.

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Die Hälfte der Säuglinge überlebte die ersten Wochen und Monate nicht, immer wieder grassierten Hungersnöte, kriegerische Übergriffe und gewaltsame Fehden waren an der Tagesordnung, und die Pest und andere Seuchen rafften bis zu zwei Drittel der Bevölkerung dahin. Gestorben wurde da, wo sich das Leben der Menschen und des Viehs abspielte. Die Menschen im Mittelalter waren buchstäblich mitten im Leben vom Tod umfangen.

Aber sie lebten nicht nur mit dem Tod, sie lebten auch mit den Toten. Sie wussten sich umgeben, von denen, die vor und mit ihnen gelebt hatten. War doch für den gläubigen Menschen der Tod zugleich der Übergang in ein anderes, jenseitiges Leben. Und wie die Lebenden sich verpflichtet wussten, für die Toten Fürsprache einzulegen, damit ihre im Jenseits noch abzubüßenden Sünden getilgt wurden und sie aus dem Fegefeuer zur ewigen Anschauung Gottes gelangten, so war man sicher, dass die Verstorbenen ihrerseits den Lebenden zu Hilfe kamen. Auf dieser "Solidargemeinschaft" der Lebenden und Toten beruhte der ganze Totenkult des Mittelalters.

Eigener Gedenktag für alle Verstorbenen

Am besten eigneten sich dazu die Klöster, wo die Mönche über Generationen hinweg an den einmal gegebenen Gedenkversprechen festhalten konnten. Besonders stach die burgundische Abtei Cluny heraus. Hier lebten die Mönche ganz für das Gedächtnis der Toten. Sie waren es auch, die zu Beginn des 11. Jahrhunderts für die Gesamtheit aller jemals verstorbenen Gläubigen einen eigenen Gedenktag reservierten: Allerseelen. Er sollte jeweils am 2. November begangen werden, dem Tag nach dem Fest Allerheiligen.

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Video: © Phillipp Arnold & Matthias Höhn

Ein herbstlicher Rundgang über den Alten Friedhof in Bonn.

Denn für die unendliche Zahl der Toten bei Gott Fürsprache einzulegen, konnte nur gelingen - so die zeitgenössische Vorstellung -, wenn möglichst viele wirksame Mitbeter tatkräftig zur Seite standen: die Heiligen. Wenn es bis heute Brauch ist, bereits am Nachmittag des Allerheiligentages die Gräber der Verstorbenen zu besuchen, dann nicht deshalb, weil der staatlich geschützte Feiertag dies erleichtert, sondern weil Allerheiligen und Allerseelen von Anfang an eng miteinander verzahnt sind und in gewisser Weise ein "Doppel-Fest" darstellen.

Heute ist der Gedenktag Allerseelen nicht mehr beherrscht von der einst so mächtigen Angst vor dem Jenseitsgericht Gottes. Trotzdem bleibt der Gedanke der Cluniazenser weiterhin bestimmend. Als eine Gemeinschaft über Zeit und Raum wissen sich die Glieder der Kirche durch die Taufe mit Jesus Christus und untereinander verbunden. Weil aber selbst der Tod nicht scheidet von der Liebe Christi (vgl. Röm 8,38f), fallen auch die Verstorbenen daraus nicht heraus. Wer jemals auf den Tod Jesu getauft wurde, gehört für immer zu dieser Gemeinschaft und darf vertrauen, auch mit Christus zum Leben aufzuerstehen (vgl. Röm 6,3-11).

Das ewige Licht leuchtet für die Toten

Der Toten, auch wenn ihre Namen längst im Dunkel der Geschichte verschwunden sind, gedenkt die Kirche in der Hoffnung auf den Gott, in dem alles Leben gesammelt und aufgehoben ist. So weisen die Lichter, die auf den Gräbern aufgestellt werden, auf die alte Gebetsbitte hin, den Verstorbenen möge das ewige Licht leuchten. Und das geweihte Wasser, das über den Gräbern ausgesprengt wird, erinnert an das Wasser der Taufe. Es ist jenes Wasser, in dem Schuld und Sünde untergehen und das neue Leben geschenkt wird.

"Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" - der Gedenktag Allerseelen will nicht ängstigen und bedrücken. Er mahnt, die Toten als Teil unseres Daseins zu verstehen, mit denen auch ein Stück unseres Lebens bereits vor Gott steht. Er mahnt aber auch, den Tod als Teil unseres Lebens anzunehmen und aus dem österlichen Glauben Zuversicht und Hoffnung zu schöpfen.

Von Jürgen Bärsch

Zur Person

Jürgen Bärsch ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Darüber hinaus ist er seit 2002 Direktor des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen und Berater der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz.

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