Wo Jesus fränkisch spricht
Ein ganzes Dorf ist im Ausnahmezustand, wenn es in Sömmersdorf wieder einmal heißt „Eine Geschichte – ein Dorf – eine Leidenschaft“. Alle fünf Jahre werden hier Passionsspiele aufgeführt. In diesem Jahr lockten diese 35.000 Zuschauer aus ganz Deutschland an.
Es war das Heilige Jahr 1933, als der Männergesangverein der 680 Seelen Gemeinde, westlich von Schweinfurt in Unterfranken, einmal etwas richtig Großes machen wollte. Die Männer hatten schon immer Heimatgeschichten aufgeführt, jetzt aber sollte es etwas Besonderes werden. Von den Klassikern wie Wilhelm Tell beispielsweise riet Dorflehrer und Regisseur Guido Halbig ab: zu groß; also entschied man sich für die Leidensgeschichte Jesu. „Die größte Geschichte überhaupt“, wundert sich Robert König kopfschüttelnd.
Es begann im Garten der Dorfwirtschaft
König ist der Vorsitzende des örtlichen Passionsspielvereins; aus den kleinen Anfängen ist nämlich etwas wirklich Großes geworden. Was einst im Garten der Dorfwirtschaft begann, hat heute ein eigenes Passionsspielgelände. Die Spiele werden alle fünf Jahre wiederholt und sind längst auf professionelle Beine gestellt. Sömmersdorf hat sich zu einem unterfränkischen Oberammergau gemausert. Vom Wirtshausgarten sind die Spieler umgezogen in den Wald am Ortsrand. Im abschüssigen Gelände wurden Bühne und Zuschauerraum errichtet und eine Halle gebaut. In diesem Jahr nahm der Verein noch einmal richtig viel Geld in die Hand. Für knapp drei Millionen Euro errichteten Fachleute, unterstützt von vielen ehrenamtlichen Helfern, ein imposantes Zeltdach über den rund 1.970 Zuschauerplätzen. Das Bühnenbild wurde neu erbaut, Licht- und Tontechnik erneuert und die Innenbühne bekam eine 28 Quadratmeter große Videoleinwand.
Seit 2013 führen die Theaterpädagogin Marion Beyer und der Kultur- und Theaterpädagoge Hermann J. Vief aus Coburg Regie. Und die hätten die Schauspieler erst einmal kräftig durchgemischt, erinnert sich König. Während früher einige Rollen „vererbt“ wurden, gibt es seitdem ein professionelles Casting, nach dem die Regie die Rollen zuweist.
Wie man sich als "Judas" fühlt
Die 24 tragenden Rollen im Stück werden doppelt besetzt, denn den meisten Schauspielern geht es so wie Johannes Gessner, einem der Judasdarsteller: „Ich arbeite noch 40 Stunden in der Woche in der Industrie.“ Seit die Spielsaison angefangen hat, meint er, sei alles „entspannter“. Und tatsächlich geht es hinter der Bühne gemütlich und locker zu. Der Stress war vorher, an 20 Probewochenenden und vor der Premiere noch einmal an vier ganzen Probetagen, dafür mussten sich einige sogar frei nehmen oder ihren Urlaub opfern, erzählt König.
Und wie geht es einem mit so einer Rolle wie dem Judas? Gessner hat damit kein Problem. „Ich empfand es als eine Ehre, der Judas ist schließlich eine intensive und tragende Rolle“, erklärt er. Schließlich sei der Darsteller des Teufels ja deswegen auch kein schlechterer Mensch. In den Rollenfindungsproben habe er sich mit der Person des Judas auseinandergesetzt: Warum war der so, was für ein Ziel verfolgte er und welche Assoziationen zum eigenen Leben fallen mir ein. „Wir kennen solche Situationen doch auch aus dem eigenen Leben, jeder von uns hat schon mal einen Fehler gemacht, etwas bereut, bis dahin, dass er sich vor sich selbst geekelt hat“, erklärt er.
"Jesus" ist kein großer Kirchgänger
Susanne Brembs, die Darstellerin der Maria, beschreibt, wie es ihr auf der Bühne geht. Die Szene, als Jesus ans Kreuz geschlagen wird, findet sie emotional sehr belastend. „Da muss ich dann von der Bühne runter und die Stimmung wieder abschütteln“, erklärt sie. Stefan Huppmann, der Jesusdarsteller meint, es sei der Vorteil einer professionellen Regie, dass „wir gezeigt bekommen haben, wie man Stimmungen hochholt, aber auch wieder ablegt“. Auch wenn der Jesusdarsteller selbst „kein großer Kirchgänger“ ist, meint er: „Um was gut machen zu können, muss man dran glauben.“ Dem stimmt auch Brembs zu. Für sie ist der Glaube schon wichtig, obwohl auch schon mal ein Moslem mitgespielt habe, erinnert sie sich. „Man muss was mit der Geschichte anfangen können, aber nicht unbedingt sehr katholisch sein“, meint der „Judas“, alias Johannes Gessner.
„Die Menschen, die hierher kommen, müssen keine Christen sein“, erklärt König. Für ihn sind die Werte, die vermittelt werden, wichtig. Auf der Bühne verschmelzen die Darsteller mit ihren Rollen, sie spielen eindringlich und leidenschaftlich. Das Publikum lässt sich berühren. Es ist wie zu der Zeit, als die Menschen noch nicht lesen und schreiben konnten und man die Botschaft der Bibel in Bildern und mit Mysterienspielen vermittelte. Bilder wirken einfach besser, gehen mehr unter die Haut als Worte. So wie eine Zuschauerin es kommentiert: „Das Leben Jesu wird viel verständlicher“.
2018 gibt es erstmals einen Prolog und einen Epilog: Eine Schulklasse auf Sightseeingtour in Jerusalem versucht den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Dabei gäbe es so viele Bezüge zur Gegenwart mitten im Stück.
Eine alte Geschichte, die immer noch aktuell ist
Jesus unterhält sich mit der Samariterin: Ob jemand den Bezug zu unserer Kommunikation mit Flüchtlingen erkannt hat? Die Ehebrecherin soll gesteinigt werden: Wie oft haben wir schon geurteilt und verurteilt und was halten wir von Menschen, die selbst bei schwerwiegenden Verfehlungen nicht urteilen wollen? Die Massen brüllen: „Kreuzige ihn!“: Ob einer da an die schreienden Demonstranten der Pegida-Demonstrationen gedacht hat? Und wenn der Hohe Priester auffordert: „Entzündet die Herzen mit glühenden Hass!“, dann möge jeder in seiner Umwelt schauen, wo dies schon überall gelungen ist. Spätestens wenn Pontius Pilatus an die Vernunft und die menschlichen Gefühle der Juden appelliert und kläglich scheitert, wird klar: Die alte Geschichte hat nichts an Brisanz verloren, wenn man es denn wagt, hinter die Bilder zu schauen.
Es ist ein Lehrstück über die Abgründe der menschlichen Seele, aber auch über deren Möglichkeit zum Guten, das die Laiendarsteller da authentisch auf die Bühne bringen. Sie laden den Zuschauer ein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Wo bin ich die Maria Magdalena, die ihre Angst überwindet und es wagt, zu einem „Staatsfeind“ zu stehen? Wo ein Josef von Arimathäa, der aufgrund seiner Überzeugung und seiner Treue zu einem Freund sogar ein Staatsamt riskiert. Es gibt viele Fragen, die mit der Passion verbunden sind; inwieweit die Zuschauer sie sich stellen, bleibt im Verborgenen. Die Gäste kommen aus allen Generationen und weit über die Region hinaus angereist. Ihr Resümee ist durch die Bank mehr als positiv.
Linktipp: Das sorbische Oberammergau
Nach dem Oberammergauer Vorbild werden auch im sächsischen Crostwitz alle zehn Jahre Passionsspiele aufgeführt. Doch gibt es einen gravierenden Unterschied: In Crostwitz spricht Jesus sorbisch. Dolmetscher sorgen deshalb für Verständigung.Für das Team der Passionsspiele hieß es am 19. August nicht nur auf der Bühne „es ist vollbracht“ – für die meisten mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Es ist gut, auch wieder einmal mehr Zeit für die Familie zu haben“, meint Huppmann. „Es war eine wahnsinnig gute Zeit und ein guter Zusammenhalt“, bestätigt Brembs, andererseits, meint sie, müsse „auch wieder einmal Normalität eintreten“. Für das Dorf hat die Passion nämlich noch eine ganz besondere Nebenwirkung. Das Gemeinschaftsgefühl wächst. Der Zusammenhalt betrifft das gesamte Team von der Vorstandschaft über die Schauspieler bis hin zum „Eselbetreuer“. Schafe, Esel und Kamele müssen betreut werden, Gewänder genäht oder verändert, und nicht wenige der Feuerwehrleute, die vor den Aufführungen den Verkehr regeln, stehen wenig später als „Volk“ auf der Bühne.
Die Bewirtung übernehmen die örtlichen Vereine, stilecht natürlich. Statt fränkischer Bratwürste gibt es Datteln im Speckmantel oder eine Sinaipfanne mit Bulgur. Statt Bier steht Nazarener- oder Magdalenenwein auf der Getränkekarte und frisch aus Israel eingeflogener Rotwein. Von den 680 Einwohnern sind rund 450 im Einsatz.