"Eine lebende Reliquie": Der älteste Bischof der Welt wird 104
Es ist Mitte August in Santiago de Chile und Bernardino Piñera Carvallo ist kalt. Der älteste Bischof der Welt scheint tief in einem schwarzen Ledersessel zu versinken, über seinen Beinen eine dicke Wolldecke. Sein Körper wirkt deutlich gekrümmter als es selbst für einen Mann seines hohen Alters üblich ist – ganz so, als wolle Piñera jedes noch so kleine Zehntel-Grad Celsius seiner Körperwärme festhalten und auf diese Weise der Kälte des letzten Wintermonats trotzen.
Die Angst vor dem August ist unter den älteren Chilenen weit verbreitet: "Pasar agosto" – den August überstehen, ist eine übliche Redewendung. Denn gerade der August wird in den Häusern und Wohnungen des Andenlandes, die meist keine Zentralheizung haben, als besonders kalt wahrgenommen. Und er gilt als gefährlich: Im Winter sterben auch heute noch ältere Menschen häufiger als in den weiteren Monaten des Jahres. Hinzu kommt die Vorfreude auf den Frühling im heraufziehenden September – und im Falle Piñeras zudem der Wunsch, den eigenen Geburtstag zu erleben.
Heute, am 22. September 2019, wird der emeritierte Erzbischof 104 Jahre alt. Wie in den vergangenen Jahren wird er wohl auch dieses Mal mit den Mitgliedern seiner in der chilenischen Oberschicht weitverzweigten Familie feiern. Chiles Staatspräsident Sebastián Piñera, ein Neffe des Jubilars, wird seinem Onkel persönlich zum Geburtstag gratulieren. Im vergangenen Jahr tat er dies sogar im Präsidentenpalast. Wahrscheinlich wird er auch dieses Jahr einige seiner Cousins, die sich als Politiker und Unternehmer in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen befinden, ebenfalls zur Feier einladen.
Doch im August ist beim Alterzbischof von Feierlaune noch keine Spur. Nur ein Foto, das etwa 40 Personen seiner Großfamilie zeigt und neben einem San-Damiano-Kreuz im Arbeitszimmer seines kleinen Appartements hängt, verweist auf die bevorstehenden Feierlichkeiten. Piñera sitzt derweil in seinem karg eingerichteten Schlafzimmer in einem von Ordensschwestern geführten Altenheim in Santiago – und ringt mit der Kälte. Denn trotz Reichtum und Einfluss seiner Familie lebt er verhältnismäßig einfach, ohne Zentralheizung – wie schon zuvor als Bischof.
Das Heim, in dem 80 weitere Senioren untergebracht sind, befindet sich im Stadtteil "Quinta Normal", an einer für das Zentrum der Hauptstadt normalen Verkehrsstraße. In unmittelbarer Nachbarschaft gibt es Friseursalons, Autowerkstätten oder Lebensmittelgeschäfte. Oberschicht sieht anders aus. Auch die überlebensgroße Nachbildung einer Lourdes-Grotte und ein weitläufiger Stadtpark sind nicht weit fern. Dort unterhalten sich die Einheimischen angeregt miteinander, Touristen machen Erinnerungsfotos neben einem bunt geschmückten Lama und eine Schulklasse ist laut kreischend auf dem Weg zu einem nahegelegenen Museum.
"Ich habe noch Kraft"
Vom Trubel des Alltags bekommt Piñera jedoch nicht mehr viel mit. Er hört schon seit einigen Jahren sehr schlecht, sein Augenlicht lässt nach und er kann sich nur mithilfe eines Stocks fortbewegen. Sein einziger Ausflug ist der täglich Spaziergang zur Kapelle des Altenheims – und schon das ist für ihn anstrengend genug. Das scheint den 104-Jährigen jedoch nicht besonders zu stören: "Ich habe noch Kraft", sagt er leise, aber bestimmt. Mit seiner Hand macht er beherzt eine Faust, wie um zu zeigen, dass er sich trotz seines hohen Alters noch gut fühlt. Bis zum heutigen Tag betet er regelmäßig das Stundengebet. "Das ist gar nicht anstrengend", bekräftigt er und grinst verschmitzt.
Meistens spricht Piñera klar und deutlich, doch manchmal macht sich sein hohes Alter bemerkbar: Er wiederholt einige Aussagen, ist von ihm unbekannten Gesprächspartnern irritiert oder reagiert nicht auf Fragen. Die Kommunikation mit ihm ist wegen seiner Hörprobleme schwierig, seine Antworten sind oft undeutlich gemurmelt. Hinzu kommt, dass er sich momentan von einem Sturz erholt, was ihn viel Kraft kostet.
Wenn es jedoch um die Vergangenheit geht, blüht Piñera auf: Sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht wirkt freudig, seine Augen werden groß. Der in Paris geborene Chilene kann sich genau daran erinnern, dass er bereits mit vier Jahren in der französischen Hauptstadt eingeschult wurde. Mit 17 Jahren kehrte er mit seinen Eltern und drei Geschwistern nach Chile zurück und begann dort ein Medizinstudium. Nach seiner Approbation und einer Spezialisierung in den USA trat er schließlich in das Seminar des Erzbistums Santiago ein und studierte Theologie. Dort wurde er 1947 zum Priester geweiht.
Wie viele Männer seiner Familie in Politik und Wirtschaft, machte Piñera schnell Karriere: Nach Stationen als Präses der Katholischen Aktion und Vizerektor der Katholischen Universität Chiles wurde er 1958 von Papst Pius XII. zum Weihbischof ernannt. 1960 machte ihn Johannes XXIII. zum Bischof der südchilenischen Stadt Temuco. Von 1962 bis 1965 nahm er an allen vier Sitzungsperioden des Zweiten Vatikanischen Konzils teil. Heute ist Piñera weltweit der letzte lebende Oberhirte, der das von sich behaupten kann. Die Erfahrungen des Konzils mögen auch seine besondere Verehrung für Paul VI. erklären, die sich in einem Bild des inzwischen heiliggesprochenen Papstes ausdrückt, das direkt neben dem Familienfoto der Piñeras hängt.
Ein Höhepunkt war der Besuch von Papst Johannes Paul II.
Nach 17 Jahren im Süden Chiles kehrte Piñera in die Hauptstadt zurück und wurde Generalsekretär der Chilenischen Bischofskonferenz. Ein Amt, das reichlich diplomatisches Geschick erforderte, denn während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) befand sich die Kirche einerseits in der Rolle einer de-facto-Staatsreligion und wurde vom Regime massiv gefördert. Andererseits setzte sich damals besonders der Erzbischof von Santiago, Kardinal Raúl Silva Henríquez, mit dem Vikariat der Solidarität für die Rechte der politisch Verfolgten ein.
1983 beförderte Johannes Paul II. Piñera zum Erzbischof von La Serena, was eine besondere Freude für den Chilenen gewesen sein muss, da seine Familie aus der für ihr mildes Klima bekannten Küstenstadt stammt. Ein Jahr später wurde er zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz gewählt. Ein Höhepunkt dieser Zeit an der Spitze des chilenischen Episkopats war der Besuch des Papstes im Jahr 1987. Drei Jahre später wurde Piñeras altersbedingter Rücktritt angenommen. Soweit es geht nutzt er seitdem seine Zeit zum Schreiben von Büchern und zum Reisen – wenn auch in den vergangenen Jahren deutlich weniger.
Der 104-Jährige denkt gerne an seine Zeit als Erzbischof von La Serena zurück: "Damals war die Kirche super", resümiert er knapp und zieht seine Decke höher zur Brust, auf der eine Marienmedaille ruht. Sein silbernes Bischofskreuz hat er auf dem Nachttisch abgelegt. Daneben ein Rosenkranz, ein Schwarz-Weiß-Foto seiner Eltern und ein Glas Wasser mit Strohhalm. "Heute macht die Kirche eine schlechte Zeit durch", sagt Piñera. Besonders Europa sei betroffen, doch auch sein Land.
Die Kirche in Chile befindet sich seit mehreren Jahren in einer schweren Missbrauchskrise. Besonders die 2010 bekannt gewordenen Fälle um den charismatischen und einflussreichen Priester Fernando Karadima haben das Vertrauen der Chilenen in die Kirche tief erschüttert. Aber erst eine unbedachte Aussage von Papst Franziskus während seiner Chile-Reise im vergangenen Jahr über einen Bischof, der der Vertuschung von Missbrauch beschuldigt wird, brachte Bewegung in die Situation. Franziskus schickte einen Sonderermittler in das Andenland und berief daraufhin alle Bischöfe Chiles in den Vatikan ein. Fast alle erklärten ihren Rücktritt. Die angestrebte Erneuerung der Kirche und ein Ende der vom Papst festgestellten weit verbreiteten "Kultur des Missbrauchs" gehen bislang jedoch nur schleppend voran. Regelmäßig werden zahlreiche neue Anschuldigungen und Missbrauchsfälle öffentlich gemacht – selbst gegen Piñera.
Der Vatikan ermittelt gegen Piñera
Im vergangenen Jahr wurde er beschuldigt, Missbrauchsfälle während seiner Zeit als Erzbischof vertuscht zu haben. In den Untersuchungen ging es vor allem um seinen Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von La Serena, den inzwischen aus dem Klerikerstand entlassenen Missbrauchstäter Francisco José Cox, der lange Zeit im Zentrum der Schönstatt-Bewegung im rheinlandpfälzischen Vallendar gelebt hatte. Ende August diesen Jahres wurden zudem Missbrauchsvorwürfe gegen Piñera selbst vorgebracht: Vor mehr als 50 Jahren soll er gegenüber einem Minderjährigen sexuell übergriffig geworden sein. Derzeit ermittelt der Vatikan gegen den Alterzbischof.
Piñera hat eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er die Anschuldigungen bestreitet und seine Mitwirkung bei der Aufklärung zusichert. "Ich bezeuge, dass ich in meinem langen Priesterleben, das 1945 begann, immer ein einwandfreies Verhalten an den Tag gelegt habe", heißt es dort. Auch sein Neffe, Staatspräsident Piñera, erklärte, dass er sich seinen Onkel nicht als Missbrauchstäter vorstellen kann. Dafür erhielt er Kritik von Opferverbänden, aber auch Unterstützung von Menschen, die den 104-Jährigen persönlich oder als Bischof kennen.
Es ist Mittagszeit und Piñera ist erschöpft – von der Kälte und dem Gespräch. Ganz so wie seine Kirche, die angesichts des großen Ausmaßes von Missbrauch in den eigenen Reihen und dem ihr gegenüber deutlich abgekühlten gesellschaftlichen Klima kraft- und ratlos wirkt. Seine Pflegerin Señora Mireya ist gekommen und richtet seine Decke. Sie nennt ihn liebevoll eine "lebende Reliquie", die im Altenheim besonders geschätzt werde und die man pflegen müsse. Piñera sei stets so gut gelaunt. Auch jetzt zeigt er sich trotz der Probleme der Kirche zuversichtlich: "Es werden wieder bessere Zeiten kommen." Doch dafür müsse man hart arbeiten und beten – so wie er das jeden Tag seines langen Lebens getan habe und weiterhin tun werde.