Neujahr im Spätsommer – Die Orthodoxie beginnt ein neues Kirchenjahr
Für Katholiken ist der 1. September unspektakulär: Im Heiligenkalender stehen der heilige Ägidius sowie Ruth und Naomi aus dem Alten Testament, der römische Generalkalender sieht kein Fest oder keinen Gedenktag vor. In der Orthodoxie dagegen markiertr 1. September den Beginn eines neuen Kirchenjahrs. An ihrem Neujahrstag unterscheiden sich die Kalender von West- und Ostkirchen: Katholische und evangelische Kirchen beginnen ihr Kirchenjahr mit dem ersten Advent, ein gutes Vierteljahr nach den östlichen Glaubensgeschwistern.
Ein großer kirchlicher Feiertag ist damit in den orthodoxen Kirchen allerdings nicht verbunden. Ursprünglich war der 1. September als Beginn eines neuen Jahres nämlich eine sehr weltliche Sache. In der Spätantike gab es mit der "Indiktion" einen fünfzehnjährigen Zyklus zur Jahreszählung. Je nach Region unterschied sich der Beginn. Im Byzantinischen Reich, Sizilien und bis 1087 auch in der päpstlichen Kanzlei wurde die "indictio Graeca", die griechische oder konstantinopolitanische Indiktion verwendet – und die beginnt immer an einem 1. September. Aus dieser Tradition stammt auch der orthodoxe Beginn des Kirchenjahres, während in den westlichen Kirchen über die Jahrhunderte verschiedene Termine für den Beginn des Kirchenjahres in Verwendung waren, bis sich der erste Advent durchsetzte.
Unterschiedlicher Beginn, ähnlicher Aufbau
Will man die unterschiedlichen Jahreszyklen theologisch deuten, verweist der abendländische durch seinen Beginn mit dem Advent eher auf Christus, der orthodoxe eher auf Maria: Der Neujahrstermin wird eingerahmt von zwei Marienfesten, dem Fest der Entschlafung Mariens am 15. August und Mariä Geburt am 8. September, dem letzten und dem ersten Hochfest im Kirchenjahr. Trotz des unterschiedlichen Termins, der als Anfang des Jahres gesetzt wird, gibt es auch weitgehende Parallelen: Die Reihenfolge der Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten und ihre grundsätzliche Position im Kalenderjahr, viele Gedenktage der Heiligen und andere Feste werden im Osten wie im Westen begangen.
Je nach verwendetem Kalender sind die Termine zum selben Datum oder – wie immer beim Osterfest und manchmal an Weihnachten – aufgrund der Verwendung des julianischen Kalenders in den orthodoxen Kirchen zueinander versetzt. In einem gemeinsamen Wort der katholischen und der orthodoxen Bischofskonferenzen in Deutschland betonen die Kirchen aber ihre Zusammengehörigkeit: "Trotz der Unterschiede im Kalender verbindet Katholiken und Orthodoxe das, was an diesen Festen gefeiert wird: die Geburt bzw. der Tod und die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus."
Wie beim katholischen (und evangelischen) Kirchenjahr gibt es neben den fest an einem Datum verankerten Gedenk- und Festtagen auch die vom variablen Ostertermin abhängigen Tage. Das Menäon, ein liturgisches Buch, fasst dabei in zwölf Bänden für die zwölf Monate die Texte für den unveränderlichen, fest terminierten Teil des Kirchenjahrs zusammen, während für die variablen Festtage und Zeiten das Triodion zum Einsatz kommt. Aus der Verschränkung von festem und variablem Kirchenjahresablauf entsteht so die für ein Jahr jeweils geltende Leseordnung.
Zum Jahresbeginn der Schöpfung gedenken
Auch wenn der 1. September selbst kein Hochfest ist: Gefeiert wird dennoch, und das sogar ökumenisch. 1989 schlug der damalige Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Demetrios I. vor, den Tag zu nutzen, um "zum Schöpfer der Welt zu beten: mit Dankgebeten für die große Gabe der geschaffenen Welt und mit Bittgebeten für ihren Schutz und für ihre Erlösung". Die an "die ganze orthodoxe und christliche Welt" gerichtete Einladung wurde 1992 in der gesamten orthodoxen Kirche übernommen. Seit 2010 begeht die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland den ersten Freitag im September als "Tag der Schöpfung" und folgt damit einer Empfehlung der 2001 von den Kirchen Europas unterzeichneten Charta Oecumenica, die empfahl, einen "ökumenischen Tag des Gebetes für die Bewahrung der Schöpfung" einzuführen.
Seit 2015, dem Jahr der Umweltenzyklika Laudato Si', ist der 1. September auch in der katholischen Kirche offiziell "Weltgebetstag zur Bewahrung der Schöpfung". "Dass wir den Gebetstag zum selben Termin wie die orthodoxe Kirche begehen, wird eine günstige Gelegenheit sein, Zeugnis abzulegen für unsere wachsende Gemeinschaft mit unseren orthodoxen Brüdern und Schwestern", betonte Papst Franziskus bei der Einführung: "Wir leben in einer Zeit, in der alle Christen vor denselben wichtigen Herausforderungen stehen, auf die wir, um glaubwürdig und erfolgreich zu sein, gemeinsame Antworten geben müssen." 2019 bekräftigte Patriarch Bartholomaios I. in seiner Neujahrsbotschaft anlässlich des 30. Jahrestags der Ausrufung des Tags der Schöpfung durch seinen Vorgänger, dass Respekt vor der Schöpfung und ihre Bewahrung eine "Dimension unseres Glaubens sowie Inhalt unseres Lebens in der Kirche und als Kirche" sind. Das Leben der Kirche selbst sei "gelebte Ökologie" – so wird dann auch deutlich, warum der Beginn des Kirchenjahres mit dem Beginn der Welt, der Schöpfung, in Verbindung gebracht wird.