Das ahnungslose Versagen in Afghanistan steht nicht allein
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
2015 darf sich nicht wiederholen – so tönt es aus den politischen Kreisen rechts der Mitte. Aus der Mahnung spricht die Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle angesichts des Versagens des Westens in Afghanistan. Zwar sind die Bedingungen völlig anders als bei der Flüchtlingswelle im Jahr 2015. Der Weg von Afghanistan nach Deutschland ist ungleich länger. 2015 konnten viele Syrerinnen und Syrer noch ohne Visum über die türkische Grenze gehen. Von dort aus machte sich dann ein Teil weiter auf den Weg nach Europa. Jetzt sind auch diese Grenzen dicht. Das Elend wird dadurch aber keinen Deut geringer. Im Gegenteil: Der Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan überlässt viele, die sich auf den Westen verlassen haben, jetzt ihrem Schicksal: Betrogene Hoffnungen, falsche Versprechungen, verleumdete Solidarität – all das mündet in einen Verrat an Menschen, die man sich vertraut gemacht hat. Den Wahlkämpfern im Westen aber fällt nichts Besseres dazu ein, als anzumahnen, 2015 dürfe sich nicht wiederholen ...
2015 reüssiert längst. Das eigentliche Problem war seinerzeit doch, dass man über Monate sah, wie die Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa liefen und sich dann überrascht zeigte, als sie vor den eigenen Grenzen standen. Aus purer Ignoranz hatte man viel Zeit zur Vorbereitung und Planung verloren.
Jetzt ist es wieder so. Afghanistan wurde nicht überrannt, Kabul kampflos übernommen. Eher scheint es so, als seien die Taliban überall schon da gewesen und brauchten nur auf ein Zeichen hin ans Licht der Öffentlichkeit treten. Die Errungenschaften, die der Westen einer völlig anders gearteten Gesellschaft verordnen wollte, sind in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden zu Staub zerfallen. All das hat man nicht gesehen und nichts geahnt?
Die Ahnungslosigkeit des postmodernen Menschen wird immer fataler. Wir sehen die Notwendigkeiten, die sich aus dem Klimawandel ergeben – und ändern nichts. Wir sehen die Gefahren, die sich durch neue Viren und Krankheitskeime ergeben – und möchten so weiterleben, wie bisher. Wir sehen, dass in Ländern wie Afghanistan Menschen auch durch unser Handeln in Gefahr für Leib und Leben geraten – und diskutieren über Bürokratie. Auch als Kirche spielen wir dieses Spiel bis zur Perfektion: Wir wissen, dass die überkommenen Formen der Verkündigung an den Menschen vorbeigehen – und pflegen die Tradition. Die menschliche Befindlichkeit des Bewahrens ist stark. Freilich ist das Motto "Ich will so bleiben wie ich bin" ein Werbespruch für Diätprodukte – wer ihm folgt, wird kleiner, nicht größer.
Wahrhaftig – 2015 sollte sich nicht wiederholen. Wir hätten vorbereiteter auf die Herausforderungen sein können, die wir selbst geschaffen haben. Wer sich jetzt überrascht über diese Herausforderungen zeigt, ist im besten Fall ahnungslos, im schlimmsten Fall aber ignorant und dumm. Das "Nichts geahnt! Nichts geahnt!" wird zur Anklage aus den Gräbern derer, die auf der Strecke bleiben. Wer sich aber den Herausforderungen voraussehend stellt, bleibt handlungsfähig. Er kann agieren, statt bloß zu reagieren. Also: Vorsicht – Menschen sind in Gefahr! Lasst sie nicht links liegen. Schaut hin und handelt!
Der Autor
Dr. Werner Kleine ist Pastoralreferent im Erzbistum Köln und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.