Gutes Wirtschaften und ein christliches Menschenbild

Martin Richenhagen: Der Weg vom Religionslehrer zum Top-Manager

Veröffentlicht am 19.10.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Duluth ‐ In der Wirtschaft geht es oft um Aktienkurse und Umsatzzahlen – wo bleibt da der Mensch? Der ehemalige Religionslehrer und internationale Top-Manager Martin Richenhagen hat darauf in seinem Berufsleben eine Antwort gesucht und berichtet davon im katholisch.de-Interview.

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Der Lebenslauf von Martin Richenhagen ist außergewöhnlich: Zuerst studierte der gebürtige Kölner (Jahrgang 1952) Theologie und wurde Religionslehrer, später wechselte er in die Wirtschaft und war zuletzt bis zu seinem Ruhestand 2020 16 Jahre lang Geschäftsführer der AGCO Corporation, dem drittgrößten Landmaschinenhersteller der Welt mit Sitz im US-Bundesstaat Georgia. Damit war Richenhagen der einzige deutsche Top-Manager in einem der umsatzstärksten US-Unternehmen. Wie aber lassen sich ein christliches Menschenbild und profitorientiertes Wirtschaften verbinden? Darüber hat Richenhagen, der in Duluth (Georgia) wohnt, im Interview mit katholisch.de gesprochen.

Frage: Herr Richenhagen, vom Religionslehrer zum Top-Manager – wie ist es dazu gekommen?

Richenhagen: Ich bin in einer sehr katholischen Familie in Köln groß geworden. Mein Vater war Volksschullehrer, mein Onkel Pfarrer, mein Patenonkel Professor für Altes Testament, meine Tante war Nonne. Mit insgesamt fünf Kindern waren wir eine sogenannte kinderreiche Familie und lebten in einer Siedlung am Rand von Köln, die extra für katholische kinderreiche Familien gebaut worden war: Der Bruder-Klaus-Siedlung.

Frage: Das ist doch der gleiche Stadtteil, aus dem auch der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki stammt.

Richenhagen: Der wohnte von uns aus gesehen vielleicht 300 Meter weit weg und war ein Klassenkamerad von meinem jüngsten Bruder. Das Umfeld war schon extrem katholisch. Mein Interesse für Theologie kam deshalb mehr oder weniger automatisch. Bei Familientreffen ging es oft um die Themen Glaube und Kirche, die Meinung von uns Jüngeren wurde da aber immer abgetan. Da habe ich mir gedacht: Denen willst du es mal zeigen. Ich habe also dann Theologie, Philosophie und Romanistik studiert. Danach bin ich Studienrat in Frechen geworden und habe da sehr viel Religion unterrichtet, weil das ein Mangelfach war. Das hat mir eigentlich auch Spaß gemacht.

Frage: Und wie sind Sie Manager geworden?

Richenhagen: Die Erziehung damals war sehr eindimensional und autoritär. Morgens ging ich in die Schule, danach hieß es Hausaufgaben machen, Geige üben und dann erst durfte ich machen, was ich wollte. Ich habe mich dann sehr stark in etwas reingehängt, wo sich sonst in der Familie niemand für interessiert hat: den Reitsport. Diese Leidenschaft habe ich dann soweit ausgebaut, dass ich mein Studium durch einen Reitbetrieb finanzieren konnte. Ich hatte zum Beispiel auch Priesteramtskandidaten als Reitschüler, das hatte sich ergeben, weil ich als Theologiestudent im Laienflügel des Bonner Priesterseminars wohnte. Für den Gymnicher Ritt, eine Reitprozession im Rheinland, fehlten Priester, die auch reiten konnten. Einmal war der Mangel so groß, dass ich mich aufs Pferd setzen und den Priester spielen musste, weil sich das sonst keiner zugetraut hat. Der Reitbetrieb lief also ziemlich gut, so gut, dass ich als Student schon einen Mercedes-Jahreswagen hatte und die Theologie-Professoren neidisch machte.

In meinem Reitstall hatte ich einen Sponsor, einen Unternehmer. Der hat sich das Ganze eine Zeit lang angeguckt und ist dann auf mich zugekommen und hat gesagt: "Herr Richenhagen, was Sie machen ist doch Quatsch: Morgens kümmern Sie sich um unerzogene Kinder fremder Leute in der Schule und Nachmittags im Reitstall. Fangen Sie doch bei mir an!" Dann habe ich den Schritt in die Wirtschaft gemacht. Besonders motiviert hat mich das, weil ich durch meinen Job auf Kosten des Unternehmens noch Betriebswirtschaft im Fernstudium studieren konnte.

Frage: Aber die Theologie hat sie weiter begleitet.

Richenhagen: Meine Examensarbeit in Theologie hatte ich damals über Hans Küng geschrieben und ihn in diesem Zusammenhang auch besucht. Er hat mich sehr geprägt, ich habe ihn später mehrmals getroffen. Was mich noch heute inhaltlich beschäftigt ist seine Idee des Weltethos – also einer Sammlung ethischer Normen, die über religiöse und kulturelle Grenzen hinaus gelten. Meiner Meinung nach brauchen wir so etwas in der Wirtschaft, der Politik, Medien und Gesellschaft. Das hat mich immer wieder beschäftigt.

Hans Küng
Bild: ©dpa/Andreas Gebert

Hans Küng hat das Konzept eines Weltethos entwickelt.

Frage: Später sind Sie in die USA gegangen, wo es zahlreiche soziale Absicherungen, die wir in Deutschland schätzen, in der Arbeitswelt nicht gibt, Stichwort Kündigungsschutz etwa. Ist es da nicht schwer, ein christliches Menschenbild in der Wirtschaft zu leben?

Richenhagen: Überhaupt nicht, weil die Kirchen in den USA wesentlich lebendiger sind als in Deutschland und weniger Berührungsängste mit der Wirtschaft haben. Der Kardinal von Atlanta, seine protestantischen Kollegen oder der Rabbi, die standen alle bei mir im Büro auf der Matte. Verbindungen zu haben schadet nie, denn wir haben Mitglieder verschiedenster Religionen im Unternehmen. Wenn die möchten, dass ein neues Werk auch eingesegnet wird, kommen da manchmal auch mehrere Religionsgemeinschaften gleichzeitig. Das ist dann auch ein Beitrag zur Integration. Kirche und Wirtschaft gehören genauso zusammen wie Kirche und Politik.

Es läuft hier anders als in Deutschland. Ja, es gibt weniger soziale Absicherung, einen lockeren Kündigungsschutz und wenig Arbeitslosengeld. Da kann man diskutieren, ob das gut oder schlecht ist. Dafür ist das Wirtschaftssystem hier viel durchlässiger und man findet schneller einen neuen Job. Hier ist es weniger bürokratisch, dadurch gibt es mehr Möglichkeiten. Gleichzeitig sind die Amerikaner sehr flexibel, sich neu aufzustellen. Zusätzlich sind amerikanische Unternehmen sehr sozial engagiert, man nennt das hier "give back to society", also der Gesellschaft vom erworbenen Gewinn etwas zurückzugeben. Wem es gut geht, der soll auch was für die Gesellschaft machen. Da werden Millionenbeträge eingesetzt.

Frage: Wie lebt man religiöse Werte in einer von Wettbewerb und Umsatzmaximierung bestimmten Wirtschaft?

Richenhagen: Man muss eine solide ethische Grundlage haben und das in eine moderne Unternehmenskultur übersetzen, die dann auch gelebt wird. Ich habe mich zum Beispiel an jedem Standort immer um den schlechtbezahltesten Mitarbeiter gekümmert. Mit dem habe ich mich zusammengesetzt und überlegt, was wir machen können etwa in Sachen Weiterbildung und Weiterentwicklung, die dann auch das Gehalt steigert. Das Zuhören hat generell immer eine große Rolle gespielt. Dazu gab es sogenannte "Skip-Level-Meetings", bei denen sich Manager mit Mitarbeitern mehrere Ebenen unter ihnen getroffen haben. Oder es gab Coaches für Mitarbeiter wie für Manager. Gleichzeitig erwirtschaftet man viel Geld, über dessen Investition man entscheiden kann. Wir haben zum Beispiel ein Dorf in Sambia unterstützt beim Bau eines Kindergartens oder einer Jugendeinrichtung. Außerdem haben wir die Menschen dort mit der Landwirtschaft vertraut gemacht und damit künftige Kunden unserer Maschinen ausgebildet. Wohltätigkeit geht also mit wirtschaftlichem Handeln einher. Im Alltag kann man viel machen, um christliche Werte zu leben und Gutes zu tun – und gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich sein.

Frage: Welche Werte sind unverzichtbar?

Richenhagen: Das Recht auf Frieden und Freiheit, ein Job, von dem man leben und eine Familie ernähren kann. Jedes Kind hat das Recht auf Ausbildung und Schule – das könnte man noch fortführen. Das sind Grundwerte, zu denen sich auch ein Unternehmen bekennen kann und sollte. Davon kann man dann konkrete Maßnahmen und Unternehmensstrategien ableiten. Wo wird wie viel Geld investiert? Wenn man möchte, kann man ethisch vernünftig handeln. Wenn es etwa um den Bau von Stallungen für Schweine und Hühner geht: Natürlich kann man die eng für die Massentierhaltung bauen, man kann den Tieren aber auch genug Raum zum Leben geben und das Tierwohl in den Vordergrund rücken.

Das hat auch mit dem Umfeld zu tun: In den USA legen viele Menschen ihr Geld und auch ihre Altersvorsorge in Aktien an – auch etwa Orden und überzeugte Christen. Die wollen ihr Geld natürlich ethisch und nachhaltig anlegen. Wenn man durch das Unternehmenshandeln für diese Gruppen attraktiv wird, kann man also auch gleich neue Investoren akquirieren. So zu denken ist besonders bei jungen Leuten heute Standard. Auch hier geht es also um gleichermaßen ethisches und wirtschaftliches Handeln.

Frage: Es hat also jeder in der Hand, etwas für eine bessere Welt zu tun?

Richenhagen: Unbedingt! Ich bin immer mehr für Eigenverantwortung als für Regulierung. Wer die Welt besser machen will, sollte sich für die Abläufe der Wirtschaft interessieren, sich dann mit Gleichgesinnten zusammentun und dann für einen Dialog zwischen Wirtschaft und Gesellschaft sorgen. Da geht es wieder um Zuhören. Eine Wirtschaft mit christlichen Werten ist möglich und erfolgreich – und jeder Einzelne kann daran teilhaben.

Von Christoph Paul Hartmann

Buchtipp

Martin Richenhagen, Stefan Merx, Thomas Mersch: Der Amerika-Flüsterer. Mein Weg vom deutschen Religionslehrer zum US-Topmanager. Edel Books, Hamburg 2021