Norbert von Xanten als Archäologe: Die "Auffindung des heiligen Gereon"
Die Legende ist wohl zu hübsch, um wahr zu sein: Eine römische Legion, bestehend vor allem aus ägyptischen Christen, bekommt einen Marschbefehl durch Europa nach Gallien und verliert überall auf ihrem militärischen Weg Mitglieder als Märtyrer des Glaubens, weil sie sich weigern, das römische Götteropfer zu vollziehen: den Kommandanten Mauritius in Agaunum (heute Saint-Maurice) im Wallis; in Bonn Cassius und Florentius mit sieben bzeziehungsweise zwölf Gefährten; in Köln Gereon mit 318 und in Xanten Viktor mit 330 Gefährten.
In Köln soll keine geringere als die heilige Helena, Mutter Kaiser Konstantins, das Gräberfeld jenseits des römischen Nordtors als das der "Thebäischen Legion" ausgemacht haben. Schon im 4. Jahrhundert entstand hier ein ovaler Zentralbau, zu dem seit dem Frühmittelalter ein Prozessionsweg etwa parallel der alten Stadtmauer führte. Später wurde an der Stelle ein hochadliges Kanonikerstift gegründet, das nach dem Kölner Domstift als das vornehmste im Erzbistum galt.
Reliquien-Auffindung hatte Hochkonjunktur
Eine mittelalterliche sogenannte Wanderlegende – die es also auch anderenorts in vielfacher Variation gibt – besagt, das eines Nachts die Thebäer dem Kölner Erzbischof Anno II. (1056-1075) im Traum erschienen und ihn sehr handgreiflich aufforderten, die Stiftskirche in der ihnen gebührenden Pracht auszubauen – was dann auch geschah. Doch: Wo der heilige Märtyrer Gereon tatsächlich bestattet lag, das war damit immer noch nicht geklärt – obwohl die "Auffindung" von Heiligen-Reliquien schon zu Erzbischof Annos Zeiten hohe Konjunktur hatte, besonders in Köln.
Hier kommt ein Mann ins Spiel, dem im Jahr 2021 in besonderer Weise gedacht wird. Nicht nur, dass der heilige Norbert von Xanten (1080/85-1134) vor genau 900 Jahren im französischen Premontre bei Laon die Prämonstratenser als einen der heute weltweit größten Orden überhaupt gründete. Als ehemaliger Stiftsherr an Sankt Viktor in Xanten hatte er auch eine besondere Verbindung zur Thebäischen Legion, die einst von Köln an den Ort am Niederrhein weitergezogen sein und weitere Märtyrer hervorgebracht haben soll.
Quasi als Sachverständiger – Experte für Heiligkeit und für die Thebäer, der er war – kam Norbert im Herbst 1121 nach Köln, wo man ihn mit Lobgesängen und buchstäblich heiligen Gastgeschenken empfing. "Auch füllte man ihm noch zwei Gefäße mit Reliquien der 11.000 Jungfrauen, der Märtyrer der Thebäischen Legion, der Mauren und der beiden Ewalde", so heißt es in seiner Lebensdarstellung, der lateinischen "Vita Norberti" aus der Mitte des 12. Jahrhunderts.
Den Brunnen fand man nicht, aber...
Nach Sankt Gereon eingeladen und solcherart reliquiär inspiriert, machte sich Norbert dann als Archäologe verdient: Denn er vermutete in dem römischen Ovalbau jenen Brunnen, in den man der Legende nach die Thebäer nach ihrer Hinrichtung geworfen habe. Den fand man zwar nicht – wohl aber diverse Gebeine ohne Kopf, und, in einem Sarkophag und in einen "purpurnen Kriegsmantel gehüllt", deren Anführer, den man sehr bereitwillig als den heiligen Gereon anerkannte.
Abt Rudolf von Sankt Pantoleon beschreibt die Geschehnisse in einem vom 15. September 1122 datierten Brief detailliert wie eine Reportage, vor allem aber den "großen Körper, breit in den Schultern, muskulös an Brust und Armen, gekleidet in einen purpurfarbenen Soldatenmantel, der an beiden Seiten herabhing bis ungefähr drei Finger unterhalb der Knie [...] Oh wie herrlich war es, die wohlgeformte Gestalt dieses hochherzigen Streiters Christi zu sehen."
Der Abt des nur gut zwei Kilometer entfernten Benediktinerklosters fährt fort, "voll lebendiger Kraft" sei Gereon gewesen: "und wenn sein Haupt so unversehrt wie der Körper gewesen wäre, so hätte man eher geglaubt, dass er schliefe, als dass er tot sei." Daneben habe man Rasenstücke gefunden, "noch ganz blutig, so wie sie vom Blut des Märtyrers getränkt worden waren, als er erschlagen zu Boden stürzte".
Angesichts solch plastischer Belege konnte doch wohl kein Zweifel mehr bestehen. Der Jubel in Köln war riesig. Bis 24. November wurde das Grab Tag und Nacht mit viel Licht und Frömmigkeit und Psalmodieren bewacht. Dann versammelten sich der Erzbischof, Äbte, alle Gemeinschaften der Stadt und eine riesige Menschenmenge, worauf der Sarkophag erneut geöffnet wurde und das ganze Kirchenvolk sich überzeugen sollte.
Buchstäblich aus dem Staub
Doch, so Abt Rudolf: Noch sah man den Heiligen – aber unter der erneuten Zufuhr frischer Luft und der Berührung der geistlichen Archäologen zerfielen Gereons sterbliche Überreste nach und nach fast gänzlich zu Staub. Allein die Reste der größeren Knochen und Teile des Untergewandes habe man in ein kostbares Tuch eingewickelt und aufbewahrt.
Kaum aufgefunden, machte sich der heilige Gereon also buchstäblich wieder aus dem Staub. Und das tat auch der heilige Norbert. Reichlich beschenkt, machte er sich auf den Weg zurück nach Premontre, um zu Weihnachten wieder bei seinen Brüdern zu sein. Von seinen Reliquienbehältern ließ er einen in der Abtei Floreffe bei Namur, die sich als Gegenleistung den Prämonstratensern anschloss. Den anderen trug er fromm nach Frankreich.