Zweithöchster Turm der Sagrada Familia fast fertiggestellt
Als der Kran den zwölfzackigen Stern aus Stahl und Glas in den blauen Himmel Barcelonas hievt, bleiben Hunderte Passanten und Touristen begeistert stehen. Die meisten Erwachsenen filmen das Schauspiel mit ihren Handys, die Kinder genießen es. Der Anblick ist wirklich imposant: Der "Stern von Bethlehem" hat einen Durchmesser von 7,50 Metern und wiegt fünfeinhalb Tonnen. Vorsichtig zieht der Kran den Koloss 138 Meter in die Höhe und setzt ihn auf dem Jungfrau-Maria-Turm der Sagrada Familia ab. Damit sind die Bauarbeiten am zweithöchsten Turm der weltberühmten Kirche von Antoni Gaudi (1852-1926) so gut wie vollendet.
Einige Kinder meinen, es handele sich um die neue Weihnachtsbeleuchtung der Basilika, und fragen, wann die Lichter angemacht werden. Ganz so falsch liegen die Kleinen damit gar nicht. Sobald Barcelonas Kardinal Juan Jose Omella Omella den Marienturm am Mittwoch (8. Dezember) zum kirchlichen Hochfest Mariä Empfängnis öffentlich segnet, soll der "Morgenstern" jeden Abend angestrahlt werden.
Und nicht nur der Stern wird leuchten. Der gesamte Marienturm, der anders als die Glockentürme innen hohl ist, soll mit seinen fast 800 Fensterchen jeden Abend hell erstrahlen. Ein riesiges Lichterfest zur vorweihnachtlichen Adventszeit.
Licht aus fast 800 Fenstern
Der Stern verändert die Skyline der spanischen Mittelmeermetropole. Vor allem abends wird man ihn von weithin über Barcelona strahlen sehen. Viele Passanten, die die Krönung des Marienturms miterlebten, waren sich vielleicht gar nicht bewusst, welch einem historischen Moment sie beiwohnen durften. 140 Jahre hat es gedauert, bis der zweitgrößte Turm endlich fertiggestellt ist. Und seit der Fertigstellung der Aposteltürme sind immerhin auch schon 44 Jahre vergangen.
Als Gaudi 1883, ein Jahr nach der Grundsteinlegung, den Bau übernahm und die Entwürfe des Gründungsarchitekten Francesc de Paula del Villar über den Haufen warf, war Deutschland erst ein paar Jahre Kaiserreich. Während in Barcelona an der Basilika gebaut wurde, folgten in Deutschland Otto von Bismarck, der Erste Weltkrieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, die Teilung Deutschlands, Kalter Krieg, DDR, Mauerfall, Wiedervereinigung und das 21. Jahrhundert – und die Sagrada Familia ist noch immer nicht fertig.
Gaudi arbeitete selbst 43 Jahre daran, konnte aber lediglich ein Zehntel des Gotteshauses realisieren: die eindrucksvolle "Geburtsfassade" mit ihren vier Türmen, von denen aber nur einer komplett fertig wurde; die Krypta, die Mauer der Apsis und die ersten Abschnitte des Kreuzgangs. Nachdem Gaudi 1926 von einer Straßenbahn überfahren und tödlich verletzt wurde, kamen die Bauarbeiten nur noch schleppend voran.
Baupläne in Flammen
Die meisten Baupläne und Gipsmodelle Gaudis gingen zudem beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 in Flammen auf. Später waren es verschiedene Finanzkrisen und jüngst auch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, die den ausschließlich mit Spendengeldern finanzierten Bau immer wieder verlangsamten.
"Eigentlich wollten wir 2026 zum 100. Todestag Gaudis den höchsten Turm, den Jesusturm, einweihen. Aber das schaffen wir definitiv nicht mehr", sagte der aktuelle Chefarchitekt Jordi Fauli der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Mit 172,50 Metern wird der Jesusturm nicht nur der höchste Turm der Sagrada Familia sein, sondern der höchste Kirchturm auf der Welt.
Doch vielleicht ist es auch gar nicht schlimm, wenn die 2010 von Papst Benedikt XVI. zur Basilica minor erhobene Kirche nicht ganz so schnell fertig wird. Denn neben ihrer organischen, fast surrealen Architektur macht gerade der Status des "Unvollendetseins" den Charme des Bauwerks aus.
Die Sagrada Familia gehört zweifellos zu den faszinierendsten Kirchen der Welt. Die Natur, vor allem aber die Bibel waren Gaudis größte Inspirationsquellen. In jedem Turm, jeder Kapelle und jeder Fassade sei eine theologische Bedeutung eingemeißelt, erklärt Chefarchitekt Jordi Fauli. Der Tempel Gaudis, dessen Seligsprechungsprozess seit 2000 läuft, sei eine "in Stein gehauene Predigt", heißt es. Und ab Mittwoch strahlt über ihr der neue "Stern von Bethlehem".