Der erste Beleg für den Gottesnamen – Muss die Exegese umdenken?
Im Heiligen Land gibt es viel Altes. Doch der Fund, den ein Team von Forschern um den texanischen Archäologen Scott Stripling Ende März der Öffentlichkeit vorgestellt hat, ist besonders alt – und womöglich der älteste Beleg für den Gottesnamen JHWH. Schon im Buch Deuteronomium ist der Berg Ebal als Ort benannt, an dem Flüche gesprochen wurden: "Und wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, dann sollst du auf dem Berg Garizim den Segen und auf dem Berg Ebal den Fluch verkünden", heißt es im fünften Buch Mose (Dtn 11,29).
An diesem biblischen Ort hat Stripling nun tatsächlich einen Fluch gefunden, oder genauer: In Material aus Ausgrabungen an diesem Ort hat er ein gefaltetes Bleitäfelchen gefunden, auf der in protosinaitischen Zeichen ein Fluch geschrieben steht – und der abgekürzte Gottesname: "Verflucht, verflucht, verflucht – verflucht durch den Gott YWH./Du wirst verflucht sterben./Verflucht wirst du gewiss sterben./Verflucht durch YWH – verflucht, verflucht, verflucht", lauten die etwa 40 Zeichen laut Stripling übersetzt.
Der älteste Beleg für die israelitische Schriftkultur?
Das Buch Deuteronomium stammt in seinen ältesten Teilen aus dem 8. Jahrhundert vor Christus – die Fluchtafel soll noch älter sein: Wenn sich die bei einer Pressekonferenz des "Bible Seminary" in Texas vorgestellte Datierung bestätigt, stammen die Tafeln aus dem 13. Jahrhundert vor Christus und wären somit der älteste Beleg nicht nur für den Gottesnamen der Torah, sondern auch für die Schriftkultur der Israeliten überhaupt: Wenn die Israeliten schon Jahrhunderte früher als bisher angenommen eine Schriftkultur waren, könnten die biblischen Berichte möglicherweise tatsächlich auf die Zeiten zurückgehen, in denen sie handeln sollen. Die Vorstellung der Tafel sorgte so auch für ein internationales Echo – weltweit berichteten Medien und sparten nicht mit Superlativen: "Fluch-Text auf antikem Amulett könnte verändern, wie Wissenschaftler die Bibel lesen", titelte etwa die Jerusalem Post.
Doch nicht alle teilen die Euphorie. "Jeder Fund einer Inschrift ist interessant und womöglich bedeutsam, zumal wenn er aus dem Umfeld einer frühen israelitischen Siedlung stammt", sagt der Alttestamentler Oliver Dyma zunächst diplomatisch. Der Professor für Exegese des Alten Testaments an der Universität Münster ist aber skeptisch. Mit Schlussfolgerungen müsse man vorsichtig sein – schließlich gebe es bisher noch keine wissenschaftliche Veröffentlichung. Die bei der Pressekonferenz und online veröffentlichten Informationen reichen für ihn jedenfalls nicht aus, um die Funde komplett einordnen zu können. "Aufgrund dieses Fundes wird die Entstehungsgeschichte des Alten Testaments sicher nicht umgeschrieben werden müssen", ist er sich aber jetzt schon sicher.
Dass ein Fund erst in einer Pressekonferenz der allgemeinen Öffentlichkeit und nicht in einer Fachpublikation den Kollegen in der Wissenschaft vorgestellt wird, ist ungewöhnlich. Dyma spricht von einem "sensationsheischenden" Auftritt. Die bereits veröffentlichten Fotos reichen für eine Bewertung nicht aus; hochauflösende Bilder, auf denen die Schrift zu erkennen ist, wurden noch nicht gezeigt. Dazu kommt, dass die Datierung aufgrund der besonderen Umstände des Fundes erschwert ist. "Der Fund stammt nicht aus einer ordentlichen Grabung, sondern aus dem erneut untersuchten Abraum einer früheren Grabung. Dadurch ist die Zuordnung zu einer bestimmten Siedlungsschicht prinzipiell unmöglich", erläutert der Alttestamentler. Lediglich über die Schrift wäre eine zeitliche Einordnung möglich – dazu braucht es aber bessere Bilder.
Auch ohne Sensation Erkenntnisgewinn zu erwarten
Bei der Einordnung der Nachrichten über den angeblichen Sensationsfund müsse man auch einbeziehen, wo Stripling forscht: Das Institut für Archäologische Studien, dessen Direktor er ist, gehört zum "Bible Seminary" in Katy, Texas, einer evangelikalen Hochschule. "Wichtig ist zu sehen, dass die Institution, die die Grabungen durchführt, keine wissenschaftliche Organisation ist, sondern sich auf die Fahnen geschrieben hat, zu beweisen, dass die Bibel wahr ist", erläutert Dyma. Schon von daher sei die Beurteilung des Fundes als authentisch schwierig: Zu gut passt die Möglichkeit, dass die ersten Israeliten im Heiligen Land ihre Geschichte selbst aufschreiben konnten, zur Agenda des Instituts.
Der Schluss, dass die Tafel eine umfassende Schriftkultur beweise, ist für Dyma daher zu schnell. "Auch wenn einzelne Wörter und kurze Inschriften schon früh verfasst wurden, können wir nicht mit einer umfangreichen Literaturproduktion bereits in der Frühzeit rechnen", betont er. Das heißt aber nicht, dass die Fluchtafel vom Berg Ebal wissenschaftlich wertlos ist. Auch Dyma erwartet Impulse für die Forschung: "Vielleicht erhalten wir einen kleinen Einblick in die Frühgeschichte Israels und des JHWH-Glaubens."