"Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass ich angekommen bin"

Dino: Junger Obdachlosenhelfer mit Herz und Handicap

Veröffentlicht am 01.05.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Erkrankungen und Behinderungen begleiten Dino schon sein Leben lang. Nach dem Schulabschluss mitten in der Corona-Pandemie stand er vor dem Nichts: Keine Ausbildungsstelle wollte ihn nehmen. Dann fand er seinen Weg zu den Straßenwächtern – und wächst über sich hinaus.

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Der junge Mann, der vor dem Laden der Straßenwächter steht, möchte sich komplett neu eindecken. "Ich brauche T-Shirts, Jeans und einen Pulli", sagt er zu Dino. Dino fragt vorsichtig nach: "Warst du nicht schon vor kurzem hier und hast ziemlich viel Klamotten mitgenommen?" Der Mann antwortet: "Ja, aber ich gehe jetzt sechs Monate zur Drogentherapie, dafür brauche ich neue Kleidung." Geduldig sucht Dino die passenden Klamotten aus. Weil er keinen Impfpass dabei hat, muss der obdachlose Mann vor der Ladentüre warten. Wenn das Ordnungsamt ihn nämlich im Laden erwischt, drohen den Straßenwächtern 25.000 Euro Strafe.

Der Mann wirkt benebelt. Acht Jahre Heroin fordern ihren Tribut. An seinen Manieren könnte er noch arbeiten. "Das Wort 'Bitte' wäre auch mal angebracht", sagt Dino höflich, aber bestimmt. Der Mann sagt höflich "Bitte". Bevor er wieder geht, erzählt er noch, dass er nach seiner Therapie eine Ausbildung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann machen möchte. Vielleicht schafft er es ja. Ansonsten sieht man sich hier bald wieder.

Erkrankungen begleiten Dino ein Leben lang

Dino wird dann auch da sein. Denn er ist jeden Tag da, im Ladenlokal der Straßenwächer in der Kölner Innenstadt. Dino ist ehrenamtlicher Obdachlosenhelfer. Er leitet das Lokal, koordiniert die ehrenamtlichen Helfenden auf den Straßen und kümmert sich um den Social-Media-Auftritt der Organisation. Ganz schön viel zu tun – und das unter erschwerten Bedingungen.

Denn Dino leidet unter mehreren Erkrankungen und Behinderungen. Er hat das Tourette-Syndrom, Autismus, Zwangsstörungen, Krampfanfälle (von denen man nicht weiß, woher sie kommen) und eine Gehbehinderung – ausgelöst durch andere Behinderungen. Die Erkrankungen und Behinderungen begleiten ihn schon sein Leben lang. "Ich war früh verhaltensauffällig als Kind. Tics habe ich, seit ich zehn oder elf Jahre alt bin. Mit 13 oder 14 wurden die Tics präsenter. Als ich 16 Jahre alt war, habe ich dann die Diagnose Tourette-Syndrom bekommen", sagt Dino.

Dino hatte lange "keinen Kontakt zur Außenwelt"

Seine Tics sind deutlich erkennbar. Mal sind es unfreiwillige Körperbewegungen, mal Vogelgeräusche, mal Beschimpfungen. Der 18-Jährige kann die Tics nicht kontrollieren. Das kann bei anderen Menschen schon mal zu Verwirrung führen.

2020, das Jahr, in dem Dino seinen Schulabschluss machte, war ein schwieriges Jahr für ihn. "Ich hatte eine schwere Phase mit den Tics. Eine Tic-Attacke während der Schulzeit war so schlimm, dass ich im Krankenhaus gelandet bin." Einen Tag später schlossen die Schulen wegen des Corona-Lockdowns. In der Zeit danach hatte Dino "keinen Kontakt mehr zur Außenwelt", wie er sagt. Er wollte eine Ausbildung anfangen, doch keine Ausbildungsstelle wollte ihn nehmen. Immer wieder standen ihm seine Erkrankungen im Weg.

Schwieriger Beginn

Über seinen besten Freund kam er Ende 2020 zu den Straßenwächtern. "Ich habe schon mit 13 oder 14 das erste Mal obdachlosen Menschen geholfen, habe zusammen mit einer Freundin Brote für sie gestrichen. Als ich dann zu den Straßenwächtern kam, war ich gleich total fasziniert und von da an dabei. Obwohl wir am Anfang noch nicht wussten, ob ich mit meinem Tourette überhaupt angenommen werde." Und tatsächlich lief zu Beginn nicht alles rund. "Am Anfang war es ein bisschen schwierig, weil ich über einen längeren Zeitraum nicht in der Öffentlichkeit gewesen bin und mich an Menschen gewöhnen musste. Ich musste es den Menschen zwei-, dreimal erklären oder sagen: Es sind nur Tics, es ist nicht ernst gemeint."

Doch die meisten obdachlosen Menschen seien einfach neugierig und stellten Fragen, sagt Dino. Beim ersten Kontakt mit Spendern oder auch Ehrenamtlern gäbe es eine kurze Vorwarnung. So wie beim jungen Mann, der heute im Ladenlokal vorbeischaut. Er möchte sich gerne bei den Straßenwächtern engagieren und Essen, Getränke und Kleidung verteilen. Dino erklärt ihm das Prozedere. Schon bald wird der Neuankömmling mit einem Bollerwagen durch die Stadt laufen und Gutes tun.

Bild: ©Martin Henning

Vom Anfänger und Experten: Heute gibt Dino sein Wissen an neue Ehrenamtler weiter.

Laut Statistischem Landesamt NRW lebten 2020 insgesamt 7193 wohnungslose Menschen in Köln. Das sind knapp 1000 mehr als ein Jahr zuvor. Und die Dunkelziffer, da sind sich die Experten einig, dürfte deutlich höher sein. In Köln engagieren sich mehrere Organisationen für obdachlose Menschen. Neben den Straßenwächtern zum Beispiel auch der Sozialdienst Katholischer Männer (SKM). Beim SKM können sich obdachlose Menschen Essen und Getränke, Kleidung und Körperpflegeartikel holen. Es gibt eine medizinische Betreuung, Wohnhilfen, betreute Wohnmöglichkeiten in WGs, Beratung und Betreuung bei drohendem Wohnungsverlust und vieles mehr.

Fachbereichsleiter Andreas Hecht erklärt, warum die Obdachlosenhilfe so wichtig ist: "Wohnen ist existentiell. Ohne Wohnraum verliert der Mensch einen wichtigen Bestandteil seines Existieren-Könnens, gerät an den Rand der Gesellschaft mit allen damit verbundenen drohenden Verlusten – Zugang zu Gesundheit, sozialem Netz, Arbeit, Besitz, Würde, Sinn, Werte. Der Leitsatz des SKM Köln – wenn auch ein bisschen veraltet – lautet: Der Mensch am Rand ist unsere Mitte. Daraus ergibt sich der Hilfeauftrag."

Dinos Art kommt bei den obdachlosen Menschen an

Sich um Menschen zu kümmern, die sonst übersehen werden, das ist auch Dinos Aufgabe. "Mir gefällt das einfach, mit den Menschen zu arbeiten und mit ihnen durch den Alltag zu gehen. Weil wir da alle zusammen die Probleme bewältigen, die wir individuell haben. Man findet Gleichgesinntheit."

Dinos Art kommt an. "Gerade, wenn du obdachlos bist – da ist mal jemand betrunken oder hat vielleicht Drogen genommen. Er ist immer ruhig und lässig. Er akzeptiert jeden Menschen einfach und das ist total wichtig", sagt Shira Kaminski. Sie ist gerade wohnungslos und auf der Suche nach einem Job. Das Ladenlokal besucht sie mehrmals in der Woche. "Du musst auch damit umgehen können. Ich glaube, wir würden alles für Dino tun, wenn er umgekehrt mal Hilfe brauchen würde."

Dino und sein Chef Dennis – eine besondere Beziehung

Immer an Dinos Seite ist Dennis Bucek, der Chef der Straßenwächter. Sie arbeiten seit anderthalb Jahren praktisch jeden Tag zusammen. Klar, dass sie eine besondere Beziehung zueinander aufgebaut haben. "Es ist eine sehr enge, familiäre Bindung. Dennis hat mich unter seine Fittiche genommen. Zusammen haben wir einen Lernprozess durchgemacht", sagt Dino.

Denn Dennis hatte zuvor keinerlei Erfahrung mit Menschen, die an dem Tourette-Syndrom leiden. Auch er musste in den Umgang mit den Behinderungen reinwachsen. Aber er ist dankbar, jemanden an seiner Seite zu haben, der sich so für obdachlose Menschen einsetzt. Außerdem sieht er, wie Dino durch die Arbeit aufblüht. "Dino ist viel selbstständiger geworden und geht mehr aus sich heraus, seit er bei uns ist", sagt Dennis.

Bild: ©Martin Henning

Arbeiten seit anderthalb Jahren praktisch jeden Tag zusammen: Ehrenamtler Dino und Dennis Bucek, der Chef der Straßenwächter.

Trotzdem ist nicht immer alles einfach. "Manchmal geht mir Dino natürlich auch auf die Nerven", sagt Dennis lachend. Wenn die Tics überhand nähmen, müsse er sich manchmal auch ein wenig zurückziehen. "Aber ich bin immer für Dino da. Wenn er Sorgen oder Nöte hat, kann er anrufen und wir sprechen miteinander."

Ohne Dennis könnte Dino viele Dinge nicht machen. Einkaufen zum Beispiel ist eine Herausforderung. Wegen seiner Gehbehinderung muss Dino an Krücken laufen. Den Bollerwagen voller Lebensmittel alleine zum Ladenlokal zu ziehen – kaum möglich. Auch Kälte ist ein großes Problem. Deswegen hält sich Dino meistens im Ladenlokal auf. "Ich höre oft: Man soll sich nicht von seinen Behinderungen aufhalten. Das ist zwar richtig, aber was viele Menschen ohne Behinderungen vergessen, ist: Manche Dinge halten einen trotzdem manchmal auf. Es sind nicht umsonst Einschränkungen", sagt Dino. "Man kann damit leben und arbeiten, aber man muss für sich trotzdem viele Kompromisse finden. Man muss mit meinen Behinderungen und Einschränkungen arbeiten können."

Bei den Straßenwächtern klappt das. Dort hat Dino so etwas wie ein Zuhause gefunden. "Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass ich angekommen bin und akzeptiert werde. Das hatte ich früher im Leben nicht. Es ist viel Menschlichkeit, die von den Obdachlosen zurückkommt. Und es gibt ein Miteinander, den Alltag gemeinsam zu bewältigen." Dinos Chef Dennis setzt sich gerade dafür ein, dass die Straßenwächter als gemeinnützig anerkannt werden. Dann kann er Dino endlich eine Festanstellung geben. Dino selbst überlegt, später soziale Arbeit zu studieren. Was er aber jetzt schon weiß: Obdachlosen Menschen zu helfen, ist genau das, was er auch in Zukunft machen möchte.

Von Martin Henning