Zum 75. Geburtstag des Malers und Bildhauers Georg Baselitz

Kopfüber in den Glauben

Veröffentlicht am 23.01.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Porträt

Bonn ‐ Georg Baselitz war schon immer für eine Provokation gut: "Dies ist nur ein Bild, das ist kein Christus." Und niemand solle den Fehler machen, ein Bild für die Sache selbst zu halten. Baselitz' "Tanz ums Kreuz" zeigt den gekreuzigten Jesus, er hängt kopfüber. Dadurch gerät das Motiv in den Hintergrund. Fast scheint es, als habe der Gekreuzigte selbst keinerlei Bedeutung, als diene er nur als strukturgebendes Element, um die vier farbigen Flächen zu unterteilen. Ist dem so? Hat Jesus Christus seine tiefere Bedeutung verloren? Ist Religion nur noch eine Hülle, dazu angetan, das Leben in inhaltsleere Formeln zu pressen?

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Für viele Gläubige in Luttrum, einem 300-Seelen-Dorf im Landkreis Hildesheim, war das eine Provokation zu viel. Nicht nur das Gemälde, die ganze Gemeinde stand Kopf: Sie sahen Luzifer persönlich in dem "gefallenen" Jesus.

Doch Baselitz lag nicht viel an der ungestörten Selbstvergewisserung der Gläubigen. Es gehört zum Leitmotiv des Künstlers, der am Montag 75 Jahre alt wurde, die Wahrnehmung des Alltags zu durchbrechen: "Wenn ich ein Bild mache, entwerfe ich ein neues Ornament – um aufzuregen, damit im Kopf wieder etwas stattfindet; um den müden Augen neue Wege zu zeigen." Letztlich nahm Baselitz das Gemälde wieder zurück – das war 1992.

Provokation ein Leben lang

Baselitz hat sein ganzes Leben lang provoziert: 1956 ist er nach nur zwei Semestern wegen "gesellschaftlicher Unreife" von der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Ostberlin geflogen; er hatte sich geweigert, seinen Kommilitonen beim Hafenbau im Kombinat Rostock zu helfen und wollte stattdessen die Werke Picassos studieren. Er ging nach Westberlin und setzte sein Studium an der Hochschule der bildenden Künste fort.

Der nächste Skandal ließ nicht lange auf sich warten: Bereits auf seiner ersten Ausstellung 1963 konfiszierte die Staatsanwaltschaft die Bilder "Die große Nacht im Eimer" und "Nackter Mann". Beide Bilder zeigen überdimensionale Penisse. Die strengen Sittenwächter und der anschließende Prozess machten Hans Georg Kern, wie Baselitz mit bürgerlichem Namen heißt, über Nacht berühmt.

„Wenn ich ein Bild mache, entwerfe ich ein neues Ornament“

—  Zitat: Georg Baselitz

1969 stellt Baselitz – den Namen hat er nach seinem Geburtsort Deutschbaselitz in Sachsen gewählt – sein erstes Bild auf den Kopf. Das wird sich im Laufe der Jahre zu seinem Markenzeichen entwickeln. Damit wollte er "das Bild aus der fatalen Abhängigkeit zur Wirklichkeit wegbringen". Die Malerei an sich sollte in den Blickpunkt rücken, unabhängig vom Motiv.

Baselitz hat sich nie als dezidiert christlicher Künstler verstanden. Dennoch hat er sich immer wieder mit biblischen Themen auseinandergesetzt – und dabei stets mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Ein Beispiel ist "Der Hirte" von 1966: Das Bild zeigt einen geschundenen Hünen, der in einer apokalyptischen Brachlandschaft umherirrt. Seine Kleidung ist zerfetzt, an seinem Körper klebt Blut.

Späte Rache an der DDR

In Psalm 23 heißt es unter anderem: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele." Doch Baselitz‘ Hirte wirkt angeschlagen, ausgezehrt und allein in den Trümmern der Welt.

Baselitz fühlte sich in eine "zerstörte Ordnung" hineingeboren. Der Zweite Weltkrieg, die Nachkriegszeit und die DDR sind die zentralen Themen. Der wilde Gestus, die harten Kanten, der starke Pinselstrich und die zerklüfteten Formen sind Kennzeichen seiner frühen Bilder. Auch seine Skulpturen, denen er sich ab 1978 widmete, bearbeitete er am liebsten mit Axt und Kettensäge.

Erst in den 1990ern, nachdem er zum teuersten deutschen Künstler nach Gerhard Richter aufgestiegen ist, schlug er eine etwas sanftere Gangart ein und verband den sozialistischen Realismus mit dem Impressionismus, indem er sowjetische Motive wie etwa "Lenin auf der Tribüne" (1999) fein pointillierte. Eine Art späte Rache an der DDR, in der alles Subjektive in der Kunst verpönt war.

So richtig sanft ist er noch immer nicht: Erst kürzlich ließ er sich im "Spiegel" mit den Worten zitieren, dass seine Bilder Schlachtfelder seien. Er bezeichnet sich selbst als "renitenten Typ", als "Brutalinski", er unterstellt, die Redakteure der FAZ litten unter pandemischer Verblödung. Georg Baselitz ist immer für eine Provokation gut.

Von Michael Richmann