Caritas-Chef: Wegen Ukraine-Krieg werden Mahlzeiten gestrichen
In der Ukraine herrscht Krieg – und deshalb hungern Menschen in Afrika. Das liegt an weltweiten Lieferketten, die ins Wanken geraten sind. Oliver Müller leitet Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbands. Im Interview mit katholisch.de spricht er über die Situation in den afrikanischen Ländern und welche politischen Schritte jetzt gegangen werden sollten.
Frage: Herr Müller, die Ukraine ist eines der größten Exportländer etwa für Weizen und Mais weltweit – unter anderem auch in afrikanische Länder. Was bedeutet der russische Angriffskrieg für diese Region?
Müller: Viele Länder trifft das sehr hart, weil sie von den Getreideexporten stark abhängig sind. Allein Äthiopien deckt etwa ein Drittel seines Weizenbedarfs aus Russland und der Ukraine. Der russische Angriffskrieg hat in der Ukraine Lieferketten gekappt, was in den afrikanischen Ländern zu extremen Preissteigerungen führt. Das trifft viele Länder in einer denkbar ungünstigen Situation: Durch die Probleme während der Corona-Pandemie kam es bereits zu Preissteigerungen, dazu kommt wegen der zum Teil schwierigen Wirtschaftssituation eine hohe Inflation. Schon vor dem Krieg hatte sich der Preis für Grundnahrungsmittel in den vergangenen beiden Jahren fast verdoppelt, jetzt hat er sich zum Teil sogar verdreifacht. Das hat auch Folgen für die Hilfe vor Ort. Im Südsudan, einem der ärmsten Länder Afrikas, gehen die Essensrationen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen aus. 1,7 Millionen Menschen stehen nun ohne Nahrung da. Viele Hilfsorganisationen haben momentan schlicht kein Geld, um bei den gestiegenen Preisen alle Menschen mit Essen zu versorgen. Das trifft gerade ein Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Unsere Partner vor Ort berichten, dass sie seit Bestehen des Landes noch nie so große Armut erlebt haben.
Frage: Die ausbleibenden Getreidelieferungen stürzen dort also Menschen in den Hunger.
Müller: So ist es. Viele Menschen können am Tag nicht mehr ausreichend Kalorien zu sich nehmen. Die Menschen greifen auf günstigere und dadurch weniger nahrhafte Nahrungsmittel zurück, zudem essen sie weniger. Im Libanon hat man das untersucht: 60 Prozent der Familien haben ihre Essensportionen verkleinert, über 40 Prozent haben ganze Mahlzeiten gestrichen. Dieses Hungerproblem führt zu Konflikten, kann also auch politische Folgen haben. Die Menschen sind in hohem Maße besorgt und beunruhigt, weil sie sich selbst und ihre Kinder nicht mehr ernähren können.
Frage: Wie kann eine Antwort auf diese Situation aussehen?
Müller: Zum einen sind mehr finanzielle Mittel der internationalen Gemeinschaft notwendig, damit für die Menschen auch bei höheren Preisen Nahrungsmittel gekauft werden können. Zum anderen muss politisch alles dafür getan werden, dass Weizenlieferungen aus der Ukraine weiterhin in die Welt gehen können. Das ist wichtig für Länder wie Äthiopien, Nigeria, Somalia und den Südsudan, wo gerade die größte Hungersnot herrscht, aber auch für die Ukraine selbst. Weiterhin möglich wäre es, auf den zweitgrößten Weizenproduzenten der Welt zuzugehen, Indien. Dort herrscht momentan ein Ausfuhrstopp für Weizen, um zunächst die eigene Bevölkerung zu versorgen. Das ist nicht gänzlich illegitim, doch es muss diskutiert werden, ob das wirklich notwendig ist. Dazu kommt die Unterstützung für Kleinbauern in den afrikanischen Ländern. Die können zum Teil nur schlecht arbeiten, weil auch der Dünger sehr teuer geworden ist. Auch für sie müssen internationale Lieferketten wiederbelebt werden, damit sie weiterproduzieren und nicht selbst in Abhängigkeit von Hilfslieferungen kommen.
Frage: Wäre es auch möglich, die Nahrungsmittelproduktion in den afrikanischen Ländern zu erhöhen?
Müller: Das ist schwierig, weil da eine weitere Problematik hineinspielt: Infolge des Klimawandels gibt es heftige Dürren einerseits, aber auch ebenso heftige Überschwemmungen andererseits, je nach Region. Das beeinträchtigt die Landwirtschaft. Der Südsudan hatte 2020 und 2021 die größten Fluten seit 1962. Das hat die Konflikte um Ressourcen dort enorm verschärft. Der Klimawandel hat zusätzlich zu den sowieso schon schweren Bedingungen die Landwirtschaft weiter geschwächt.
Frage: Was macht die Caritas in diesen Ländern?
Müller: Wir richten unsere jährliche Aktion "Die größte Katastrophe ist das Vergessen", die wir gemeinsam mit der Diakonie planen, genau daraufhin aus. Wir wollen die Öffentlichkeit auf die Hungersnot in Ostafrika hinweisen und das auch in die Politik tragen. Zusätzlich kümmern wir uns um die Menschen vor Ort in Afrika, denn in vielen Ländern sind wir schon seit Jahrzehnten aktiv. Dadurch konnten wir bereits viel verhindern, Kinder mit Hungerbäuchen etwa gibt es heute bei weitem nicht mehr so häufig wie vor einigen Jahrzehnten. Auch die Zahl der Hungertoten ist zurückgegangen. Das liegt etwa an Wasserrückhaltebecken, die in den letzten Jahren angelegt werden konnten. Es gibt also Entwicklungen, die Hoffnung machen. Doch durch den Mix aus Dürre, Verteuerung, Wirtschaftskrise, Inflation und Spätfolgen der Corona-Pandemie ist das Erreichte gefährdet.