Der Apostel Thomas – mehr als nur der "Ungläubige"!
Am 3. Juli gedenken katholische, armenische und syrische Christinnen und Christen des Apostels Thomas. In der lateinisch-westlichen Tradition wird der Apostel oftmals als der "Ungläubige" oder "Zweifler" dargestellt – beispielsweise in dem gleichnamigen berühmten Gemälde des italienischen Malers Caravaggio, das heute in der Bildersammlung des Schlosses Sanssouci in Potsdam hängt. Nach Joh 20,24–29 will schließlich Thomas der Auferstehung Jesu erst dann Glauben schenken, wenn er seine Finger in die Male der Nägel und seine Hand in die durchbohrte Seite des Herrn legen darf (Joh 20,25). Dazu lädt der Auferstandene seinen Jünger auch ohne jeden Tadel ein, so dass dieser, ohne der Aufforderung des Herrn nachzukommen, seinen Glauben bekennt: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28) Jesus entgegnet ihm daraufhin: "Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (Joh 20,29)
Es wird allgemein angenommen, dass die weit verbreitete sprachliche Wendung vom "ungläubigen Thomas" auf diese biblische Erzählung zurückgeht. Jüngere exegetische Arbeiten, wie zum Beispiel die des Münchner Einleitungswissenschaftlers Gerd Häfner, deuten die biblische Überlieferung vom Zweifel des Thomas indes weniger als tadelnswerten Makel denn als Vergewisserung und dadurch legitime Station zum Glauben, zu dem der Auferstandene seine Jünger führen wolle. Thomas kann durch sein Bedürfnis nach einem "Beweis" für seinen Glauben etwa für den indischen Philosophen Pedro de Souza gar zum Vorbild für den wissenschaftstreibenden Menschen werden, der durch seinen Zweifel zu weiteren widerspruchsfreien Erkenntnissen gelangen könne.
Ein dunkler Start im Westen
Weil Thomas nach der Schilderung des Johannesevangeliums allerdings erst nach Jesu Einladung, seine Finger und seine Hand in die Wundmale zu legen, zum Glauben an die Auferstehung gekommen ist, wurde sein Gedenktag im römischen Kalender bis zu dessen Reform durch Papst Paul VI. im Jahr 1970 am 21. Dezember gefeiert, d.h. am kürzesten Tag und der längsten Nacht des Jahres – so, wie sich an dieser Wintersonnwende das Licht erst nach einer langen Phase der Dunkelheit durchsetzen kann. Evangelische und anglikanische Christinnen und Christen halten es heute noch so.
Mit seiner Neuordnung hat der römische Papst jedoch den Akzent des Thomasbildes verschoben; denn nun steht nicht mehr das Bekenntnis des Glaubens nach der Überwindung des Zweifels des Apostels im Zentrum der kirchlichen Memoria, sondern die Überführung seiner Gebeine, die an einem 3. Juli am Ende des vierten Jahrhunderts von Indien in die mesopotamische Stadt Edessa (heutiges Urfa in der Türkei) gelangt sein sollen. Eine Notiz über diese Translatio findet sich bei Ephraim der Syrer († 373), der den Satan darüber klagen lässt, dass ihm der Apostel, den er in Indien getötet habe, nach Edessa zuvorgekommen sei. Nach dem Zeugnis der edessenischen Stadtchronik sind die Gebeine des Thomas im Jahr 392/393 in der Thomas-Kirche niedergebettet worden, von der aus sie über Konstantinopel und die Insel Chios (heutiges Griechenland) durch lateinische Kreuzfahrer im Jahr 1258 in die italienische Adria-Stadt Ortona gelangten, wo sie heute noch verehrt werden.
Papst Paul VI. hat mit seinem neuen Akzent für die Interpretation des Thomas insofern an Überlieferungen angeknüpft, die östliche Traditionen des Christentums seit Jahrhunderten bewahren. Auf der einen Seite gilt ihnen Thomas nicht nur als Patron der Stadt Edessa, sondern auch als Missionar von ganz Parthien (heutiger Iran und heutiges Turkmenistan). Von diesem Herkommen weiß im dritten Jahrhundert der Kirchenvater Origenes von Alexandria.
Auf der anderen Seite berichten in demselben Jahrhundert die apokryphen Thomasakten davon, wie Judas Thomas, wie ihn die syrische Überlieferung nennt, nach Indien gekommen sei: So habe er sich zwar zunächst geweigert, seinen Auftrag auszuführen, als ihm durch das Los unter den Aposteln Indien als Missionsgebiet zugewiesen worden sei. Daraufhin sei jedoch der Herr selbst erschienen und habe den Baumeister an einen indischen Kaufmann namens Abban verkauft, der ihn in sein Heimatland mitgenommen habe. Dort habe Judas Thomas nicht nur den Palast für den König Gundaphor errichtet, wie es von Abban verlangt worden sei, sondern auch zahlreiche Bekehrungen zum Christentum bewirkt, ehe er das Martyrium erlitten habe. Den gewaltsamen Tod des Glaubensboten verbindet die örtliche indische Überlieferung mit dem St. Thomas Mount, einer Erhebung in der Nähe der ostindischen Millionenstadt Chennai (Madras). In der Nähe dieses Thomasberges, in Mylapore, einem Vorort von Chennai (Madras), wird noch heute in der St. Thomas Basilica das Grab verehrt, in dem Thomas bis zu seiner Überführung seiner Gebeine nach Edessa gelegen haben soll.
Im Jahr 2022 hat diese östliche Überlieferung für viele indische Christinnen und Christen eine besondere Bedeutung: Denn sie feiern die 1.970. Wiederkehr des Jahres der mündlich überlieferten Landung des Thomas in Indien im Jahr 52 n.Chr. Vielleicht kann dieses besondere Gedenken der geschätzt rund vier Millionen Angehörigen der katholischen Ostkirchen in Indien uns westliche Katholikinnen und Katholiken dazu einladen, den Apostel Thomas "gesamt-katholisch" zu denken – das heißt, sowohl als den Zweifler und Grübler, der durch sein Nachfragen zum Glauben findet, als auch als den Glaubensboten, der die Flamme des Evangeliums in einem neuen bevölkerungsreichen Land entzündet hat. Dann könnten die katholischen Traditionen aus Ost und West zusammenwachsen und einen starken ökumenischen Impuls in Richtung der altorientalischen Kirchen in Indien aussenden.
Der Autor
Christian Lange vertritt derzeit den Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.