Ein Lehrbeispiel "geistlichen Missbrauchs": Der Fall Jean Vanier
Der im Januar veröffentlichte 900-Seiten-Bericht einer Expertenkommission von Psychologen, Soziologen und Theologen über die sexuellen Praktiken des kanadischen "Arche"-Gründers Jean Vanier (1928-2019) ist eine wahre Offenbarung. Auf der Grundlage von Hunderten persönlicher Briefe, zahlreichen Interviews mit Betroffenen und kirchlichen Akten auf unterschiedlichsten Ebenen ist es erstmals gelungen, ein verborgenes Netzwerk von geistlichem Missbrauch umfassend darzustellen und seine internen Mechanismen zu analysieren.
Zentrale Figuren sind ein Priester, der Dominikanerpater Thomas Philippe (1905-1993), und sein Zögling, der charismatische Laie Vanier. Der auf den Internetseiten des von Vanier gegründeten internationalen Behinderten-Hilfswerks Arche abrufbare Report zeigt auf, wie zunächst Pater Philippe und später sein Schüler Dutzende von meist jungen Frauen unter dem Vorwand geistlicher Gespräche zu sexuellen Handlungen brachten.
Die von Philippe entwickelte "erotische Christologie", wonach der handelnde heilige Mann für Christus steht und die von ihm bis zur "Vereinigung des Fleisches" berührte Frau für die Jungfrau Maria oder die "himmlische Braut" ist vermutlich ein Sonderfall spirituell-theologischer Verirrung – der aber offensichtlich zuverlässig funktionierte. Rund 30 Betroffene dieser Form der "geistlichen Zuwendung" von Pater Philippe sind aktenkundig, bei Vanier sind es 25. Die Kommission rechnet mit einer weit höheren Dunkelziffer, da sich die Aktivitäten der beiden über insgesamt sieben Jahrzehnte hinzogen.
Die Mechanismen erotisch-sexueller Verführung
Außer erstaunlichen Details, die der Bericht schildert, enthält er wichtige analytische Ansätze und Erkenntnisse, die über den Fall Philippe/Vanier hinaus für die derzeitige innerkirchliche Debatte über das Phänomen des "geistlichen Missbrauchs" wegweisend sind. Dazu gehören die erstmals detailliert aufgeschlüsselten Mechanismen erotisch-sexueller Verführung im geistlichen Kontext.
Damit wird ein Phänomen genauer beschrieben, das in der Regel weder weltlichen noch kirchlichen Strafen unterliegt. Einzige Ausnahme ist im Kirchenrecht bislang die Kombination von sexueller Verführung und sakramentalem Handeln, vor allem in der Beichte. Die "Absolutio complicis" (Lossprechung des sexuell Mitbeteiligten) ist kirchenrechtlich ebenso eine schwere Straftat wie die Verführung eines Menschen in der Beichte (das sogenannte "Crimen sollicitationis").
Letzteres war in der von Philippe und Vanier geführten sexual-spirituellen Geheimsekte ein immer wieder genutztes Einfallstor zur körperlichen Annäherung an Frauen: eine besondere Form des gemeinsamen Gebets und des "geistlichen Gesprächs", bei dem der Hörende sein Ohr physisch "auf das Herz" der Sprechenden legte und damit intimen Kontakt herstellte, aus dem sich dann weitere Berührungsmöglichkeiten ergaben.
Immerhin hatte das Heilige Offizium, die Vorgängerbehörde der Römischen Glaubenskongregation, in den 1950er Jahren aufgrund Missbrauchs der Beichte genug Evidenz gegen Philippe gesammelt, um ihn 1956 der meisten priesterlichen Funktionen zu entheben und in die Verbannung zu schicken. Doch kehrte er 1964 nach Frankreich zurück und wurde in der von seinem Schüler Vanier gegründeten Behinderten-Wohngemeinschaft Arche in einem Ort nördlich von Paris wieder eine Art geistlicher Leiter – mit erneutem Zugang zu "Bräuten".
Vorwürfe kamen erst spät an die Öffentlichkeit
Da die Objekte ihrer geistlich-sexuellen Annäherungen nie die Behinderten, sondern stets erwachsene Frauen aus dem Umfeld waren, geschah aber ansonsten nichts, was für Kirche oder Staat strafrechtlich relevant gewesen wäre. Frappierend ist, wie es dem inneren Kreis, zu dem auch einige Frauen gehörten, über Jahrzehnte hinweg gelang, das Treiben der beiden Serien-Verführer im Verborgenen zu halten. Erst 2014, als Philippe längst tot und Vanier hochbetagt war, wurden erste Vorwürfe publik.
Auch in dieser Hinsicht ist der Bericht aufschlussreich über den konkreten Fall hinaus – weil er Methoden und Strategien von Geheimhaltung zeigt, die beginnend mit den unmittelbar Betroffenen über den inneren Kreis der Institution bis hin zu den kirchlichen Aufsichtsbehörden über Jahrzehnte funktionierte. Der Vanier-Report setzt Maßstäbe, die auch für künftige gründliche Untersuchungen, etwa in den bekannten Fällen Josef Kentenich und jüngst Marko Rupnik, vorbildlich sein könnten.
Gefragt ist das Recht
Zudem macht er deutlich, dass die rechtlichen und prozeduralen Grundlagen zur Kontrolle geistlicher Bewegungen in der Kirche kaum wirken. Regelmäßige Visitationen, aber auch die Definition neuer kirchenrechtlicher Straftatbestände scheinen daher dringend erforderlich. Denn wenn charismatische Führergestalten wie Vanier keine Priester sind, greifen auch die üblichen Kirchenstrafen wie Predigt- oder Beichtverbot oder auch die strafweise Entfernung aus dem Priesteramt als Höchststrafe nicht.
Auch die Wirkung der Exkommunikation, die als Beugestrafe immer nur vorläufigen Charakter hat, ist beschränkt. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben seit 2005 bereits einige Verschärfungen bei der kirchenamtlichen Genehmigung und Kontrolle "geistlicher Gemeinschaften" angeordnet. Inzwischen ist noch einiges mehr über das Phänomen der Ausnutzung geistlicher Autorität zur Befriedigung sexueller oder sonstiger Begierden bekannt. Der Vanier-Report vervollständigt diese Erkenntnisse in dramatischer Weise. Nun sind die kirchlichen Gesetzgeber und Richter erneut gefragt.