Kurienkardinal Vegliò kritisiert europäische Asylpolitik

"Kein Angriff von Feinden"

Veröffentlicht am 23.04.2015 um 00:00 Uhr – Von Agathe Lukassek – Lesedauer: 
"Kein Angriff von Feinden"
Bild: © KNA
Vatikan

Bonn ‐ Zunächst schmerzerfüllt, dann entrüstet war Kurienkardinal Antonio Maria Vegliò, als er von dem erneuten Flüchtlingsdrama im Mittelmeer hörte. Als Präsident des päpstlichen Migrantenrates hat er eine Vorstellung davon, wie Flüchtlingen geholfen werden könnte. Im Interview mit katholisch.de fordert er von der EU eine andere Asylpolitik und die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention.

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Frage: Herr Kardinal Vegliò, wie fühlten Sie sich, als Sie von den Bootsunglücken erfahren haben?

Vegliò: Als ich von der Nachricht gehört habe, war das erste Gefühl eine tiefe Traurigkeit. Der erneute Schmerz um all die Mitmenschen, die ihr Leben auf tragische Weise im Meer verloren haben, war stark. Bei jedem Unglück dachte und hoffte ich bislang, dass es das Letzte sei, aber stattdessen fand ich mich jedes Mal wieder vor der grausamen Wirklichkeit.

Als nächstes folgte die Entrüstung: Ich fragte mich, ob wir wirklich alles in unserer Macht stehende tun, um solche Tragödien zu verhindern. Man hat manchmal den Eindruck, dass die internationale Gemeinschaft in vielen Bereichen – etwa auch bei der Christenverfolgung – Rückschritte macht und nicht so präsent ist, wie sie es sein müsste. Ich frage mich, ob es einen echten Willen gibt, die Probleme der Flüchtlinge zu lösen.

Frage: Wie meinen Sie das?

Vegliò: Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, als die Menschen sich hinter Mangelinformation und Nichtwissens versteckten, obwohl vor ihren Augen Völkermorde geschahen. Mit den heutigen Kommunikationsmitteln kann niemand mehr so tun, als ob nichts wäre. Es gibt diese schwerwiegenden Probleme und alle wissen davon. Parolen wie 'schickt sie nach Hause zurück' oder 'werft sie alle raus' dürfen nicht unterstützt werden. Denn dies würde für die Flüchtlinge bedeuten: 'Geht zum Sterben in eure Länder und lasst uns in Frieden'. Solche Thesen sind absolut nicht hinnehmbar.

 

Migranten auf einem Boot im sizilianischen Hafen von Pozzallo.
Bild: ©KNA

Migranten auf einem Boot im sizilianischen Hafen von Pozzallo.

Frage: Welche Veränderungen in der Politik fordert der Migrantenrat von der EU?

Vegliò: Wie Papst Franziskus vergangenen Sonntag auf dem Petersplatz sagte, ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft entschieden und schnell handelt. Antworten, die sich auf den Grenzschutz und die Ausweitung militärischer Interventionen beschränken, reichen nicht aus. Die EU muss sich ja nicht gegen einen Angriff von Feinden verteidigen. Hier geht es nicht um eine 'Invasion', die wir aufhalten müssen, sondern um ein humanitäres Drama! Es muss mehr getan werden, und zwar auf internationaler Ebene, weil alle betroffen sind.

Darüber hinaus muss den Ursachen entgegengetreten werden, die viele Menschen dazu bringen, ihr Heimatland zu verlassen. Viele dieser Länder haben große Probleme. Die Bevölkerung leidet Hunger, während gleichzeitig genug Geld für Waffen da ist. Den Kriegen, dem Waffenhandel, der Armut und den Verfolgungen muss ein Ende gesetzt werden. Dies kann durch eine enge Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft mit den Herkunftsländern der Migranten erreicht werden. Und dafür hat nicht nur die Europäische Union Verantwortung zu tragen, sondern auch die Vereinten Nationen.

Frage: Wie könnte man eine sichere Überfahrt von Flüchtlingen gewährleisten?

Vegliò: Es muss bei einer neuen europäischen Asyl- und Migrationspolitik beginnen. Die Menschenrechte und das Einhalten der internationalen Konventionen müssen an die erste Stelle rücken. Viele von denen, die in die 'Todesboote' steigen, sind Flüchtlinge, also sind sie vom internationalen Recht geschützt, besonders von der Genfer Flüchtlingskonvention. Ihnen wird das Recht auf möglichst sichere Fluchtwege zugestanden. Außerdem muss den kriminellen Schlepperbanden das Handwerk gelegt werden, die die Verzweiflung der Menschen ausnutzen, um sich zu bereichern.

Frage: Was kann die Kirche tun, um den Flüchtlingen zu helfen?

Vegliò: Die Kirche tut jetzt schon viel. Ich möchte allen Einrichtungen danken, die täglich versuchen, dem Problem entgegenzuwirken. Aber es gibt noch mehr zu tun – und zwar für alle. Man darf dem, was passiert, nicht einfach passiv zusehen. Jeder Christ hat eine prophetische Stimme und ist aufgerufen, die Situation anzuklagen. Es reicht ein Blick in die Bibel : Unsere Religion hat eine Vergangenheit der wirtschaftlichen und politischen Migrationen. Auch wir waren wandernde Völker auf der Suche nach einem besseren Leben.

Diese christlichen Wurzeln müssen der Motor sein, um den Unglücken etwas entgegen zu setzen. Wir Christen müssen einen Diskussionsrahmen schaffen, der frei ist von wirtschaftlichen und politischen Einflüssen und Interessen. Jeder Christ muss die Migranten verteidigen, indem er ihre Rechte, ihre Würde und ihre Gotteskindschaft betont.

Von Agathe Lukassek