Ballast oder Schatz?
Das passt kaum zur Bergpredigt im Neuen Testament. Da sagt Jesus: "Liebt Eure Feinde, segnet, die euch fluchen, und tut denen Gutes, die euch hassen." Christen bedienen sich also im Alten Testament, wenn es in ihre Überzeugung passt. Aber passt das Alte Testament überhaupt zum Christentum? Darum flammt jetzt in der evangelischen Kirche ein Streit auf . Ein Streit, der die Christenheit seit ihren frühen Tagen begleitet.
Schon vor zwei Jahren schrieb der Berliner evangelische Theologe Notger Slenczka in einem Aufsatz: "Die christliche Gemeinde ist in den Texten des Alten Testaments nicht angesprochen." Darin stimme die Bibelwissenschaft der letzten Jahrzehnte überein. Und setze sich damit von früheren Auffassungen ab. Er stellte daher die Frage, ob die Kirche das Alte Testament als Heilige Schrift nicht ablehnen müsse. Oder im Rang herabstufen. Etwa so wie jetzt schon die sogenannten Spätschriften des Alten Testaments.
Luther: "Nützlich und gut zu lesen"
Deren Geltung war lange umstritten. Martin Luther rechnete sie – wie die Juden – nicht zur Bibel, aber übersetzte auch sie ins Deutsche und fand, sie seien "nützlich und gut zu lesen". Die katholische Kirche fügte sie in ihrer großen Antwort auf die Reformation, dem Konzil von Trient, ausdrücklich in das Alte Testament ein.
Trotzdem fristete das Alte Testament lange ein Schattendasein in beiden Kirchen. In der Liturgie kam es kaum vor. "Muss man daraus nicht Konsequenzen ziehen?", fragte Slenczka. Der Münchner Erzbischof Michael Kardinal Faulhaber hatte das Alte Testament, das er eigentlich schätzte, 1933 so charakterisiert: "Das Alte Testament war an sich gut, im Vergleich mit dem Evangelium aber Stückwerk, Halbheit, Unvollkommenheit. Das Neue Testament hat vollendet, hat die ganze Offenbarung Gottes gebracht. Kommt das Vollkommene, dann hört das Stückwerk auf."
Schon früher auf Distanz zum Alten Testament
Evangelische Theologen hatten sich schon früher vom Alten Testament distanziert. Etwa der prominente Berliner Professor Adolf Harnack zur vorletzten Jahrhundertwende. Oder, noch ein Jahrhundert früher, der Theologe Friedrich Schleiermacher. Der sagte: "Das lebendige Christentum bedarf in seinem Fortgange gar keines Stützpunktes aus dem Judentum." Schon am Anfang des Christentums, im zweiten Jahrhundert, hatte der später als Ketzer verurteilte Theologe Markion einen scharfen Gegensatz gesehen zwischen dem Gott des Gesetzes im Alten und dem Gott der Liebe im Neuen Testament. Für ihn bestand die Bibel nur aus dem Neuen Testament. Selbst daraus wollte er die Teile aussortieren, die sich an Judenchristen richteten.
Aber das Alte Testament hat viel mit dem Verhältnis zwischen Christen und Juden zu tun. Nach dem Holocaust, in den letzten Jahrzehnten, haben die Kirchen ihre Ansicht aufgegeben, die Kirche sei als das neue Gottesvolk an die Stelle der Juden getreten. Heute sehen sie in ihrer früheren Haltung eine theologische Abwertung des Judentums, die zum rassischen Antisemitismus der Nazis beigetragen hat.
„Die christliche Gemeinde ist in den Texten des Alten Testaments nicht angesprochen.“
Jetzt sind die Kirchen der Ansicht, die Christenheit stehe an der Seite der Juden in einem zweiten Bund mit Gott, und der erste mit den Juden sei ungekündigt. Eine Reihe evangelischer Kirchen hat diese Überzeugung in ihre Verfassungen aufgenommen. Die katholische Kirche vollzog die Kehrtwende in der Erklärung "Nostra Aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils. Immer mehr Christen reden seither nicht mehr vom Alten, sondern vom Ersten Testament oder der Hebräischen Bibel.
Das kann aber auch arrogant wirken, hielt Slenczka dem entgegen: Die Christen wollen das Judentum aufwerten, aber zugleich definieren sie sich selber damit ins gleichen Haus Gottes und quartieren sich sozusagen im jüdischen Wohnzimmer ein.
Kommt das Dritte Reich im Protestantismus wieder?
Klar, dass Slenczka damit die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit reizen musste. Friedhelm Pieper, ihr evangelischer Präsident, schlug Alarm. Er nannte Slenczkas Aufsatz einen theologischen Skandal. Und beklagte, dass dessen Meinung zwei Jahre lang fast unbemerkt und ohne Widerspruch im Raum stand. Slenczka stelle sich in die "antijüdische Tradition des deutschen Protestantismus". Der jüdische Pädagoge Micha Brumlik sah bereits einen neuen Antijudaismus in der evangelischen Kirche heraufziehen. Kommt das Dritte Reich im Protestantismus wieder?
Das wirkte. Kein Vorwurf wiegt in der evangelischen Kirchen schwerer als dieser. Fünf von Slenczkas Professorenkollegen der Berliner Humboldt-Universität distanzierten sich öffentlich: Seine Meinung sei "historisch nicht zutreffend und theologisch inakzeptabel". Für die fünf ist klar, "dass das Alte Testament in gleicher Weise wie das Neue Testament Quelle und Norm der evangelischen Theologie ist und bleiben wird". Christoph Markschies, der bekannteste der Unterzeichner, sagte eine schon geplante Diskussion mit Slenczka wieder ab: Dessen Thesen seien bereits gründlich widerlegt. Im Hintergrund dieser Kontroverse schwelt, so heißt es, ein Streit in der Fakultät.
Auch Brumlik legte nach. In mehreren Stellungnahmen wurde der Vorwurf heftiger, Slenczka begebe sich in die Nähe einer Theologie, die dem Holocaust Vorschub leistete. Slenczka selbst meint inzwischen ebenfalls, dass jetzt erst einmal Ruhe einkehren sollte. Gegen Nazikeulen argumentiert man vergebens. Manche Kollegen seiner Zunft meinen, dass man seine Ansicht durchaus diskutieren sollte, auch wenn sie sie nicht teilen. Aber niemand steht öffentlich dazu.
Mehr Altes Testament in den Gottesdiensten
Die Gegner verweisen darauf, dass beide Kirchen beim Alten Testament derzeit doch ziemlich zulegen. Dessen Bücher sollen in den Gottesdiensten häufiger vorkommen, sagt eine neue Ordnung von Bibel- und Predigttexten in der evangelischen Kirche. Und das Zweite Vatikanische Konzil empfahl, den Tisch des Wortes Gottes "reicher zu decken". Sprich: mehr Altes Testament in der Messe.
Eigentlich reicht die Antwort so weit zurück wie das Problem. Als Markion seine gekürzte Bibel vorstellen wollte, da reagierte die Kirche heftig. Zum einen erklärte sie ihn zum Irrlehrer. Und dann machte sie sich daran, die für sie gültigen Bücher zusammenzustellen, denn das war bisher noch nicht geschehen. Heraus kam die Bibel, die wir heute kennen. Markions Streichliste erreichte das Gegenteil: Schon die frühe Kirche legte Wert darauf, dass die Verbindung mit dem Judentum nicht abriss. Sie erklärte genau die Bücher des Alten Testaments für verbindlich, die auch den Juden heilig waren. Aber niemand, weder Christen noch Juden, betet im Gottesdienst um Rache.