Friedensprozess wird noch lange dauern

Srebrenica: Wenn Kirchenvertreter Kriegsverbrecher feiern

Veröffentlicht am 18.11.2023 um 11:30 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Srebrenica ‐ Verschiedene Narrative der jüngeren Vergangenheit erschweren das Zusammenleben der drei Ethnien in Bosnien-Herzegowina. Die einen leugnen den Völkermord, andere wiederum feiern Kriegsverbrecher. Hinterbliebene hoffen auf Frieden – meist vergebens.

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Das Massaker von Srebrenica gilt als das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Genozid erreichte der Bosnienkrieg (1992-1995) seinen tragischen Höhepunkt. Innerhalb weniger Tage tötete die serbische Armee unter der Führung von Ratko Mladić mehr als 8.000 muslimische Bosnier, vor allem Männer und Jungen. Um den Massenmord zu vertuschen, gruben die Täter einige der Gräber später wieder aus und verteilten sie auf andere Gebiete. Noch heute werden jedes Jahr weitere Leichen identifiziert und beigesetzt, andere aber scheinen wie verschollen – zum Leidwesen der Hinterbliebenen. Überreste, Kleidungsstücke und Habseligkeiten von Opfern des Völkermordes werden zum Teil auf eine erniedrigende und unangemessene Weise in Kisten und Säcken gelagert – mehrere hundert Kilometer von Srebrenica entfernt.

Die Hinterbliebenen der Opfer – darunter Witwen, die ihre Männer, und Mütter, die ihre Söhne verloren haben – müssen einen beschwerlichen und langen Weg auf sich nehmen, um bei ihren Lieben zu sein. Das US-amerikanische katholische Hilfswerk "Catholic Relief Service" finanziert und errichtet daher in Zusammenarbeit mit dem "Srebrenica Memorial Center" eine neue Gedenkstätte in dem Ort, in der die persönlichen Gegenstände und Überreste des Massakers von 1995 Platz finden. Die Hinterbliebenen der Opfer des Massakers sollen auf diese Weise die Möglichkeit haben, Frieden zu finden, sagt Sanela Imamović von "Catholic Relief Service" gegenüber katholisch.de. Man wolle damit "zum Gedenken an alle, vor allem aber an die noch unbekannten Opfer des Völkermordes beitragen", so Imamović über das 760.000 Euro teure Projekt, das den Hinterbliebenen die lange, mehrere hundert Kilometer lange Reise zu ihren Angehörigen ersparen soll.

Kriegsverbrecher werden gefeiert – auch von kirchlichen Würdenträgern

Die Wunden des vergangenen Krieges, insbesondere die während des Krieges begangenen ethnisch motivierten Verbrechen, belasten nach wie vor das Zusammenleben von Serben, Bosniaken und Kroaten. Trotz der Verurteilung durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, ist einer der Gründe dafür die unterschiedliche Interpretation des Völkermordes. Imamović betont, dass in Bosnien-Herzegowina bis heute "der Völkermord von bestimmten Strukturen, Personen und Gruppen geleugnet wird", was nach wie vor eine "ernste Herausforderung für den Frieden" darstelle. Dabei ist der Begriff völkerrechtlich klar definiert. Verschiedene Institutionen und Gerichte, darunter der Internationale Gerichtshof (IGH), der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und das Staatsgericht von Bosnien und Herzegowina, haben wiederholt entschieden, dass die Ermordung von mehr als 8.000 Bosniaken in Srebrenica durch serbische Einheiten während des Bosnienkriegesals Völkermord zu werten ist. Der Serbenführer Radovan Karadzic und sein Armeechef Ratko Mladić wurden deshalb rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt.

Auf dem Balkan gibt es aus Sicht von Imamović jedoch nach wie vor eine "besorgniserregende Tendenz" zur Relativierung von Kriegsverbrechen. Ehemalige Kriegsverbrecher aus dem Bosnienkrieg werden im serbischen Belgrad und teilweise auch im kroatischen Zagreb als Helden gefeiert und von politischen, staatlichen und religiösen Stellen sowie kirchlichen Würdenträgern unterstützt. Das zeigt ein aktuelles Beispiel aus dem eher katholisch-konservativen Kroatien: In einem im August aufgenommenen Video sagt ein verurteilter Kriegsverbrecher vor Freunden, er würde es wieder tun, denn "jede Sekunde hat sich gelohnt". Der Mann, seit Kurzem auch frischgebackener katholischer Theologe, genießt das Ansehen einiger kroatischer Bischöfe und ist ein gern gesehener Gast bei kirchlichen und gesellschaftlichen Veranstaltungen, Empfängen, Akademien, Podiumsdiskussionen, Märschen für das Leben oder Gottesdiensten. Auch von Seiten der serbisch-orthodoxen Kirche kam es im Juli zu einem Eklat: Am Gedenktag des Massakers von 1995 wurden vor der Kirche in Srebrenica provokative rechtsnationale und rechtsextreme Lieder gespielt, die auf die Leugnung des Völkermordes anspielten.

Ein Mann besucht ein Grabfeld in Screbrenica - dem Ort, in dem serbische Soldaten unter den Kommando von General Mladic im Juli 1995 mehr als 8.000 Menschen, vorwiegend Muslime, töteten.
Bild: ©picture alliance / Juergen Feichter / EXPA / picturedesk.com

Ein Mann besucht ein Grabfeld in Screbrenica - dem Ort, in dem serbische Soldaten unter den Kommando von General Mladic im Juli 1995 mehr als 8.000 Menschen, vorwiegend Muslime, töteten.

30 Jahre nach dem Krieg sind solche nationalistischen Narrative noch sehr präsent, was zum Teil auf die Verbindung von Religionsgemeinschaften und Politik zurückzuführen ist. Der bosnische Franziskaner, Theologe und Publizist Drago Bojić betont gegenüber katholisch.de, dass es der nationalen Politik in Bosnien-Herzegowina gelungen sei, "die Religionsgemeinschaften für ihre Interessen einzuspannen". Bojić weiter: "In den Religionsgemeinschaften gab und gibt es kritische Stimmen, die aber keinen nennenswerten Einfluss auf die Mehrheitsmeinung haben. Religiöse Führer fordern daher die Unterstützung der nationalen Politik mit der Begründung, dass dadurch die nationale und politische Einheit bewahrt und gestärkt wird". Die Ausbreitung des Nationalismus in Staat und Religionen habe bereits in den 1990er Jahren begonnen, sei aber bis heute "das stärkste Merkmal der bosnischen Gesellschaft", so der Theologe.

Versöhnungsprozess dauert noch immer an

Dennoch sind in Teilen der Gesellschaft partielle Veränderungen erkennbar. Ein demokratisches parlamentarisches System funktioniert ansatzweise, Wahlen finden statt und es gibt positive Tendenzen in Richtung Europäischer Union und NATO-Mitgliedschaft. Der Versöhnungsprozess ist aber noch nicht abgeschlossen. Internationale Friedensorganisationen, der Interreligiöse Rat von Bosnien und Herzegowina und einzelne Vertreter aller dominierenden Religionsgemeinschaften – darunter die katholische Kirche, die islamische Gemeinschaft, die serbisch-orthodoxe Kirche und die jüdische Gemeinde – versuchen auf verschiedenen Ebenen die Wunden und Erinnerungen des Krieges zu heilen. Experten sehen die größte Verantwortung in diesem Prozess bei den Religionsgemeinschaften, zumal alle Religionsführer der Institution des Interreligiösen Rates angehören. Dessen Aufgabe sei, die Versöhnung zu fördern und eine Gesellschaft zu schaffen, die auf der Achtung der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten, der Verantwortung, der Gerechtigkeit und allem, was sich positiv aus den Religionen ergebe, beruhe.

Bild: ©Privat

Drago Bojic ist bosnischer Franziskaner, Theologe und Publizist.

Das gelinge nur schwer oder gar nicht, sagt Bojić. Religionsführer stellten sich in der Öffentlichkeit als Friedensstifter dar, "aber ihr konkretes Handeln widerspricht dem oft". Auch die Arbeit des Interreligiösen Rates sieht er kritisch: "Es gibt praktisch keine Zusammenarbeit zwischen den Religionsführern, weil die Beziehungen im Interreligiösen Rat schlecht sind und es oft Streit und Vorwürfe gibt". Es gebe zwar Gläubige und Religionsführer, "die sich in verschiedenen Initiativen und Projekten für den Frieden einsetzen", aber das reiche nicht aus. Der Gesellschaft fehle die nötige Reife, um die Wunden der schwierigen jüngeren Vergangenheit aufzuarbeiten. Ein weiteres großes Problem sei, dass es keine gemeinsame Position zur jüngsten Vergangenheit gebe: "Jede der drei Seiten hat ihre eigene Sicht und Interpretation der Vergangenheit, die von den anderen nicht akzeptiert wird", so der Theologe über die drei Ethnien, die in Bosnien-Herzegowina leben. Und weiter: "Jedes Kollektiv beschäftigt sich mit sich selbst und seinen eigenen Leiden. Selten wird kritisch über die Verbrechen des eigenen Kollektivs gesprochen. Gleichzeitig feiern alle Seiten ihre Kriegsverbrecher, während sie die Opfer und das Leid der anderen ignorieren".

Imamović ist sich sicher: Der Friedensprozess wird noch lange dauern, aber das Projekt soll ein Schritt in diese Richtung sein. "Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben", sagt die Vertreterin der katholischen Hilfsorganisation. Vor allem dürfe man die Hoffnung in die Jugend nicht aufgeben, die die Zukunft des Landes maßgeblich mitgestalten solle. Auch Theologe Bojić hebt Initiativen und Menschen hervor, "die einen kritischen und objektiven Blick auf die Vergangenheit suchen". Dies werde jedoch meist ignoriert und "als Angriff auf nationale und religiöse Interessen wahrgenommen".

Von Mario Trifunovic