20 Jahre nach dem Völkermord herrscht in dem bosnischen Ort noch immer Trostlosigkeit

Srebrenica stirbt zum zweiten Mal

Veröffentlicht am 11.07.2015 um 00:01 Uhr – Von Thomas Brey (dpa) – Lesedauer: 
Kriegsverbrechen

Srebrenica ‐ Das ostbosnische Srebrenica steht weltweit für den jüngsten Völkermord in Europa. Auch 20 Jahre nach dem Massenmord mit rund 8.000 Toten herrschen in dem Städtchen Trauer und Hoffnungslosigkeit. Niemand kehrt zurück, alle wollen nur weg.

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Die einzige Metzgerei ist nach dem Tod des Inhabers verwaist. Auf dem Bauernmarkt sind nur zwei Verkaufsstände besetzt - einer mit Kleidung, der andere mit ein wenig Obst. "Srebrenica lebt wegen der Toten nur einen Tag im Jahr", schreibt die größte bosnische Zeitung "Dnevni avaz" in dieser Woche resigniert. Heute ist es 20 Jahre her, dass serbische Verbände hier rund 8.000 muslimische Jungen und Männer ermordeten.

Vor dem Krieg (1992-1995) lebten in dem Ort 12.000 Menschen. Drei Viertel von ihnen muslimische Bosniaken. Heute sind es nach offizieller Zählung weniger als die Hälfte. Nach Darstellung der Einheimischen leben hier dauerhaft aber nicht mehr als 4.000 Menschen. "Dnevni avaz" spricht sogar von nur 1.000. Die Mehrheit sind Serben. Das Kräfteverhältnis hat sich also von den Opfern zu den Tätern verschoben. Orthodoxe Serben und Muslime leben strikt getrennt voneinander, berichten beide Seiten.

Gehässigkeiten schon am Ortseigangsschild

Neben dem Rathaus hat die Hilfsorganisation USAID ein Plakat angebracht. In Herzform haben sich junge Menschen aufgestellt und winken. "Das ist unsere Stadt", heißt es in großen Lettern: "Vertrauen, Verstehen, Verantwortung für die Zukunft". Doch das Gemeinschaftsgefühl lässt sich nicht so einfach herbeizaubern.

Die kleinen tagtäglichen Gehässigkeiten sind schon am Ortseingangsschild abzulesen. Der Ortsname in kyrillischer Schrift für die Serben ist gut zu lesen. Die lateinische Version für die Muslime ist weggekratzt. Vergangene Woche wurde die Parole "11. Juli Tag des Sieges" an Hauswände gekritzelt. Vor einigen Tagen klebten überall Porträts des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Linktipp: "Die Zeit heilt keine Wunden"

Auch am 18. Jahrestag des Massakers von Srebrenica, am 11. Juli 2013, wurden Hunderte Opfer des Völkermords beerdigt. Dabei wurde auch das jüngste Opfer des Massakers - ein Baby, das nur wenige Stunden nach seiner Geburt sein Leben verlor - bestattet.

"Die Kinder lernen schon in der Schule zwei ganz verschiedene Geschichtsversionen", klagt Sehida Abdurahmanovic. Die 60-Jährige hat im Krieg ihre halbe Verwandtschaft verloren und sich dem mächtigen "Verband der Srebrenica-Mütter" angeschlossen. "Die Jungen werden schon früh zum Kirchen- und Moschee-Besuch angehalten", berichtet sie.

Religion und Ideologie dienen auch heute noch als Werkzeuge der nationalen und politischen Auseinandersetzung. Manche sprechen gar von Waffen. Die serbisch-orthodoxe Kirche und zwei Moscheen liegen in Sichtweite. In Sichtweite liegt auch ein Kirchlein, das Serben zur Zeit unmittelbar neben der Srebrenica-Gedenkstätte in Potocari vor den Toren der Stadt errichten. Der Stifter der kitschig-bunten Kirche sieht den Bau als klares Bekenntnis für die Sache der Serben gegen die Bosniaken.

Eine Kirche als Provokation

Die empfinden das Gebäude als pure Provokation, weil neben der Gedenkstätte auch mehrere Massengräber liegen. Dabei wohnen im Umkreis praktisch keine Serben, nur Bosniaken. Die vom muslimischen Bürgermeister Camil Durakovic geführte Gemeinde ließ den Bau stoppen. Doch die Regierung der serbischen Landeshälfte von Bosnien-Herzegowina, zu der Srebrenica gehört, setzte sich darüber hinweg. Und da beginnen nach Meinung vieler Einwohner die Probleme.

Es ist ein alter Plan, Srebrenica wegen der traurig-einzigartigen Geschichte zu einem Sonderdistrikt zu machen. Doch daraus wurde nichts. Die Gemeinde gehört weiter zum Einflussgebiet des serbischen Landesteils. Und deren Regierung ist nach Meinung vieler für die wirtschaftliche Misere der Region verantwortlich. Weil sie jede Erholung abblockt. Weil sie die Kommune durch die Umleitung von Finanzen ausbluten lässt. Weil sie im Gegenteil an ihr noch Geld verdient.

Ein Mann besucht ein Grabfeld in Screbrenica - dem Ort, in dem serbische Soldaten unter den Kommando von General Mladic im Juli 1995 mehr als 8.000 Menschen, vorwiegend Muslime, töteten.
Bild: ©picture alliance / Juergen Feichter / EXPA / picturedesk.com

Am 11. Juli 1995 töteten serbische Soldaten unter den Kommando von General Mladic in Screbrenica mehr als 8.000 Menschen, vorwiegend Muslime.

Und das geht so: Das staatliche Elektrizitätswerk im benachbarten Serbien schuldet Srebrenica seit Jahrzehnten Entschädigungen für ausgedehnte Ländereien, die beim Bau der Talsperre am Grenzfluss Drina überflutet wurden, sagt die Stadtverwaltung. Die Konzession für den einst blühenden Bergbau in Srebrenica wurde einem zwielichtigen Russen gegeben. Das Geld dafür fließt zur bosnisch-serbischen Regierung in Banja Luka statt nach Srebrenica.

Unter der Herrschaft der Habsburger vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg war Srebrenica ein über die Grenzen hinaus bekanntes Heilbad. Noch bis in die 1980er Jahre verzeichnete die Gemeinde tausende Kurgäste. Doch der einstige Badebezirk ist zerstört. Banja Luka hat die Lizenz an einen umstrittenen serbischen Geschäftsmann gegeben. Der lässt seitdem ohne nennenswerte Investitionen 80 Millionen Liter bestes Mineralwasser im Jahr ungenutzt im Boden versickern. Lizenzen zur Forstwirtschaft in dem waldreichen Gebiet wurden ohne einen längerfristigen Plan an Einzelpersonen verhökert.

Feindseligkeiten im Stadtrat

Arbeitslosigkeit wohin man schaut. Es gibt einen kleinen Autozulieferer, der 180 Serben beschäftigt und eine Lebensmittelfabrik. Glück hat, wer bei der Stadtverwaltung unterkommt. Doch die ist arm und kann bedürftige Bürger nicht mal mit Medikamenten oder Heizmaterial versorgen. Ohnehin stehen sich im Stadtrat Serben und Bosniaken oft feindselig gegenüber und blockieren alles.

Und dennoch gibt es Lichtblicke. Die österreichische Organisation "Bauern helfen Bauern" hat in den letzten eineinhalb Jahrzehnten in Srebrenica und der Nachbargemeinde Bratunac 436 Holzhäuser aufgebaut. In ganz Bosnien waren es sogar 1.036. Mit den sechs mal vier Meter kleinen Häuschen auf zwei Etagen werden Rückkehrer beglückt, die nahezu mittellos sind, erklärt der lokale Koordinator Namir Poric das System. Daneben gibt es als Zugabe ein Tier und Saatgut. Im Juni hat der liechtensteinische Werkzeughersteller Hilti aus der ganzen Welt 25 junge Führungskräfte nach Srebrenica gebracht. Die bauten in einer Woche drei dieser Häuser, die von ihrem Arbeitgeber bezahlt werden.

Linktipp: Gemischte Bilanz

Vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen gegründet - mit dem hehren Ziel, "künftige Generation vor der Geißel des Krieges bewahren". Doch vor allem das Massaker von Screbrenica steht symbolisch für das wiederholte Versagen der UNO.

Die Österreicher haben vor drei Jahren hier auch eine Musikschule für über 200 Kinder gegründet. Durch Spenden können Grundschüler seit einem Jahr im "Haus der guten Töne" kostenlos das Spielen von Musikinstrumenten erlernen. Der 40-köpfige Chor ist schon vor Papst Franziskus aufgetreten. "Es ist ein Traum. Das ist der einzige Platz, wo sich Serben und Bosniaken ohne Rücksicht auf ihre Volkszugehörigkeit treffen", schwärmt die ehemalige österreichische Politikerin und Vorsitzende des Projekts, Doraja Eberle. Eberle und ihre Organisation "Bauern helfen Bauern" sind seit 1997 vor Ort und die einzigen westlichen Wohltäter, die Srebrenica noch nicht verlassen haben.

Demgegenüber malt Avdo Purkovic, Besitzer der einzigen kleinen Pension Srebrenicas, ein tiefschwarzes Zukunftsszenario. "Alles steht hier still und die wenigen Rückkehrer hauen ein zweites Mal ab", klagt der 30-Jährige. Ein Grund: "Alles kreist hier nur um die negativen Kriegsgeschichten". "Wir können nicht jeden Tag nur die Knochen der Opfer zählen", verlangt der Jungunternehmer - und: "Für uns geht der Krieg mit dem Kampf ums tägliche Überleben weiter."

"Das Volk wird als Geißel missbraucht!"

Purkovic hat zwei Schuldige ausgemacht. Da sind einmal die heimischen zerstrittenen Politiker, "die das Volk als Geiseln missbrauchen". Und die internationalen Politiker sowie Hilfeorganisationen. "Wo ist das viele Geld geblieben? Bei den einfachen Bürgern ist von Hunderten und Aberhunderten Millionen praktisch nichts angekommen", behauptet er. Der 20. Jahrestag des Genozids müsse daher "eine Kehrtwende" bringen. Doch er erwartet, dass Srebrenica nach diesem international beachteten Tag in Vergessenheit geraten wird. Und wappnet sich dagegen mit Plänen für die Schließung seiner Pension und den Umzug in die Stadt Tuzla.

Während es wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich bergab geht, blüht die Erinnerungskultur Srebrenicas. Gerade wird ein neues "Völkermordmuseum" gebaut. Es wird zwar wegen zahlreicher Querschüsse aus Banja Luka nicht rechtzeitig zu diesem 11. Juli fertig. Baufortschritte sind trotzdem auszumachen. Es handelt sich um das ehemalige Hauptquartier der niederländischen Blauhelmsoldaten, die den Massenmord hier nicht verhindern konnten oder wollten. An den Wänden sind die Graffiti der Soldaten zu sehen. In den Schauräumen sollen auch Fotos eines UN-Soldaten gezeigt werden. Die geben einen Eindruck von dem tausendfachen menschlichen Elend unmittelbar vor dem Völkermord vor zwei Jahrzehnten - ein Einblick in menschliche Abgründe!

Gauck und Overbeck zum Jahrestag des Massakers

Bundespräsident Joachim Gauck hat an das Massaker von Srebrenica vor 20 Jahren als Völkermord und "ein Symbol für das Versagen der Völkergemeinschaft" erinnert. In einem Brief an den Bürgermeister der Stadt, Camil Durakovic, erklärte Gauck: "Nur mit großer Scham kann ich daran denken, dass wir Sie allein gelassen haben: Die internationale Staatengemeinschaft schützte Srebrenica nicht, obwohl Srebrenica doch eine UN-Schutzzone war." An die Gräuel vom 11. Juli 1995 mit schätzungsweise 8.300 Toten erinnerten am Freitag auch Menschenrechtler sowie Vertreter aus Politik und Kirche. Nach den Worten des katholischen Militärbischofs Franz-Josef Overbeck mahnt das Massaker dazu, eine solche Form der Aggression zu verhindern. "Den gezielten Versuch, eine ganze Bevölkerungsgruppe auszuradieren, darf es nicht mehr geben", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Essen und verwies auf ähnliche Bedrohungen in Syrien und im Irak. Das fünfte Gebot "Du sollst nicht morden" bedeutet laut Overbeck auch "Du sollst nicht morden lassen". Dies sei ein hochgradig schwieriges ethisches Thema, da Gewalt immer ein Übel sei. Unter bestimmten Bedingungen gebe es aber keine Alternative dazu, mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren, um das größere Übel zu verhindern. (KNA)
Von Thomas Brey (dpa)