Die vergessene Seite Gottes
Ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht: Fast jeder besitzt ein Gottesbild - und sei es nur, um sich daran zu reiben oder die Existenz Gottes zu leugnen. Ich war vielleicht drei Jahre alt, als ich den Allmächtigen zum ersten Mal sah. Meine Schwester und ich hatten ausgelassen in unserer Wohnküche gespielt. Und das offenbar so wild, dass die Holzdielen erbebten und die guten Gläser im Küchenschrank klirrten.
Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter genau sagte, als sie uns zurechtwies. Es hatte aber wohl mit Gott zu tun. Denn nie werde ich vergessen, wie ich mich spontan zum Fenster umdrehte und Gottes drohenden Finger - überdimensional groß - zwischen den Wolken erblickte: nur ein drohender weißer Zeigefinger, ohne Gesicht, ohne Gestalt, ohne Augen.
Jeder Mensch trägt sein persönliches Gottesbild mit sich, mal als Wegzehrung, mal als Last. Es unterliegt - je nach Lebenserfahrung - starken Veränderungen, stellt gewissermaßen eine Entwicklungsgeschichte dar. Diese Entwicklungsgeschichte ist einerseits hoch individuell, andererseits aber auch typisch für bestimmte Generationen. Ich denke da an die Generationen, die beispielsweise mit dem Satz "Gott sieht alles" aufwachsen mussten und sich oft nur mühsam von diesem bedrohlichen Gottesbild befreien konnten. Heute sehen junge Menschen in Deutschland, so eine Studie, in Gott eher so etwas wie den guten Freund von nebenan, mit dem sie jederzeit unkompliziert Kontakt aufnehmen können. Sofern sie überhaupt an Gott glauben.
Natürlich gibt es daneben noch viele andere Gottesbilder, die je nach Situation und Alter das Leben prägen: Gott als Geliebter, Gott als innere Kraftquelle, Gott als Herrscher, der den Zu-Kurz-Gekommenen Gerechtigkeit verschafft. Und nicht zu vergessen das Gottesbild Jesu: Gott als barmherziger Vater, der so viele mütterliche Züge in sich trägt, dass er ohne weiteres auch als Mutter ansprechbar ist.
Jedes Bild, und sei es noch so weiterführend, aber birgt die Gefahr in sich, mit Gott selbst verwechselt zu werden, sich gleichsam absolut zu setzen. Wir alle neigen dazu, uns in unsere Bilder von Gott zu verlieben und darüber zu vergessen, dass Gott vor allem eines darstellt: ein unverfügbares Geheimnis. Deshalb gehört zum spirituellen Reifen immer auch das Zerbrechen alter Gottesbilder, zumindest ihr Infrage-Stellen.
Abschied von einseitigen Gottesbildern
So haben sich nicht wenige Frauen in den vergangenen Jahrzehnten von einseitig männlichen Gottesbildern verabschiedet. Der Mystiker Meister Eckhard, der grundsätzlich allen Bildern misstraute, versuchte manchmal sogar, Gott als reine Eigenschaft zu begreifen: als Erbarmen, als Liebe oder als tiefe Gelassenheit. Und handelte sich dafür wiederum das Misstrauen der Kirche ein.
Gott als Heiliger Geist, dessen Kommen und Beistand die Christinnen und Christen an Pfingsten feiern, ist dagegen eine Glaubenswahrheit, die in den Herzen der Menschen nur selten vorkommt. Ist schon die Lehre von der Dreifaltigkeit - ein Gott in drei Personen - schwer zu fassen, so ist der Heilige Geist, was seine Verankerung in Bildern angeht, vollends eine Zumutung. Mit der Folge, dass es gleich eine ganze Fülle von sehr unterschiedlichen Heiliggeist-Bildern gibt: Schon bei der Schöpfung schwebte der Geist - als dynamische Kraft - über den Wassern. Bei der Taufe Jesu kam er "wie eine Taube auf ihn hinab", an Pfingsten erschien er "wie ein heftiger Sturm" und "Zungen wie aus Feuer" ließen sich auf die Apostel nieder. Allesamt Originalzitate aus der Bibel, allesamt versehen mit dem Wörtchen "wie". Ein Hinweis darauf, dass das Wirken des Heiligen Geistes letztlich alle Bilder übersteigt.
Die Autorin
Silvia Becker ist seit 2008 Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für Deutschlandradio und Deutsche Welle. Sie studierte in Aachen Philosophie und katholische Theologie und arbeitete - nachdem sie einige Jahre in der Frauenbildung tätig war - viele Jahre als verantwortliche Redakteurin für "Die Mitarbeiterin", eine Zeitschrift für Frauenbildung und Frauenseelsorge. Daneben ist sie auch als freie Autorin tätig.Der Heilige Geist ist nach christlichem Verständnis vor allem eins: Gott in Beziehung. Und ist es nicht genau das, was jeder Mensch im Tiefsten ersehnt: nicht allein zu sein, sondern in Beziehung zu leben? Ich finde es absolut faszinierend, dass der große und ewige Gott diese Sehnsucht, ja, diese Seinsstruktur mit uns Menschen teilt.
Gott will nicht bei sich selbst bleiben, will kein einsamer, eisiger, unbewegter Machtblock sein, sondern er stellt die Schöpfung als sein Gegenüber aus sich heraus, erschafft sich das Universum. Schon da ist der heilige Geist als Leben spendende Kraft gegenwärtig.
Aber die Sehnsucht Gottes nach Beziehung bleibt, so dass er nicht nur die Tiere und schließlich den Menschen - als sein Abbild - schafft, sondern sogar selbst als Mensch die Erde betritt. Doch sogar die Liebe zwischen Gottvater und Gottsohn, zwischen Gott und Jesus Christus, genügt nicht sich selbst, sondern wird umfangen vom heiligen Geist. Durch Jesus Christus sind auch wir Menschen mit einbezogen in dieses göttliche Liebesgeschehen, sind Teil davon. Dieses Wunder feiern wir an Pfingsten. Ein Wunder, das alle Gottesbilder sprengt.