Evangelische Kirche: 9.355 Missbrauchsopfer – 3.500 Beschuldigte
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat mit großer Betroffenheit die Ergebnisse einer umfangreichen Missbrauchsstudie aufgenommen. Sie habe von der Untersuchung "vieles erwartet, aber das Gesamtbild hat mich doch erschüttert", sagte die kommissarische EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs bei der Vorstellung am Donnerstag in Hannover. Die Kirche und ihr Wohlfahrtsverband Diakonie hätten eklatant versagt und seien Betroffenen nicht gerecht geworden.
Die Studie belegt, dass es viel mehr Missbrauchsopfer gegeben hat als erwartet: Danach wurden seit 1946 nach "spekulativen" Hochrechnungen mindestens 9.355 Kinder und Jugendliche in evangelischer Kirche und Diakonie sexuell missbraucht. Zudem gibt es 3.497 Beschuldigte, davon gut ein Drittel Pfarrer oder Vikare.
Nur eine Landeskirche lieferte Personalakten
In ihrer offiziellen Pressemitteilung spricht die EKD indes nur von 1.259 Beschuldigten und 2.174 Betroffenen. Mitautor Harald Dreßing, der auch maßgeblich an der katholischen MHG-Missbrauchsstudie 2018 beteiligt war, erläuterte die Differenz: Trotz vertraglicher Verpflichtung habe von den 20 evangelischen Landeskirchen nur eine einzige neben den Disziplinarakten auch die Personalakten geliefert.
Die zusätzliche Analyse der Personalakten in der einen kleineren Landeskirche zeigte laut Dreßing, dass die Disziplinarakten etwa 60 Prozent der Beschuldigten und 70 Prozent der Betroffenen nicht erfasst hätten. Auf Basis dieser Daten und von Erfahrungswerten ähnlicher Untersuchungen komme man auf die deutlich höheren Zahlen (Seite 585 bis 731). Auch dabei handele es sich aber nur um "die Spitze der Spitze des Eisbergs"; es sei von einem sehr großen Dunkelfeld auszugehen.
Mit Blick auf die Opfer sagte Fehrs. "Wir haben sie zur Tatzeit nicht geschützt und wir haben sie nicht würdig behandelt, als sie den Mut gefasst haben, sich zu melden." In Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen habe es ein Wegsehen gegeben. Sie plädierte für eine Dunkelfeldstudie, die sich auf die gesamte Gesellschaft beziehe.
Der Leiter der Studie, Martin Wazlawik, führte aus, dass Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche bislang unzureichend erfasst und aufgearbeitet worden seien. Der schlechte Umgang mit Betroffenen sei häufig auch aus der Haltung heraus geschehen, dass die evangelische Kirche sich als die bessere verstanden habe.
Vertreter von Missbrauchsbetroffenen forderten verbindliche Standards für die Aufarbeitung in den Landeskirchen; sie verhinderten Aufklärung. Durch deren Umgang mit Betroffenen würden immer noch Menschen retraumatisiert, sagte Detlef Zander. Nach den Worten von Katharina Kracht ist das Narrativ, die katholische Kirche sei stärker von sexuellem Missbrauch betroffen als die EKD, nicht mehr haltbar.
Buschmann: Bessere Prävention
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) rief beide Kirchen auf, sich für Aufklärung von Missbrauchsfällen, Wiedergutmachung und bessere Prävention einzusetzen. Weiter sagte er: "Kirchliche Aufarbeitung ist wichtig – aber sie ist kein Ersatz für staatliche Strafverfolgung, wo diese möglich ist."
Laut Studie waren rund 64,7 Prozent der Opfer männlich und rund 35,3 weiblich. Bei den Beschuldigten handele es sich fast nur um Männer (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen seien bei der ersten Tat verheiratet gewesen. Bei den meisten Taten handelt es sich um sogenannte Hands-on-Handlungen, also Vergehen mit Körperkontakt – von nicht notwendigen körperlichen Hilfestellungen im Sportunterricht bis hin zur Penetration.
Die EKD hatte die Studie vor gut drei Jahren für rund 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben. Auch Betroffene waren beteiligt. Die Autoren werteten rund 4.300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und rund 1.320 weitere Unterlagen aus. Zum Vergleich: Bei der MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz 2018 wurden rund 38.000 Personalakten durchgesehen. (KNA)