Skandalroman "Die Nonne": Arte-Doku über Geschichte von Buch und Film
Dafür, dass sich Denis Diderot eigentlich nur einen kleinen Scherz erlauben wollte, zog die Sache ziemlich weite Kreise: Ausgehend vom realen Fall der Marguerite Delamarre, die erfolglos vor Gericht dafür gekämpft hatte, von ihrem Ordensgelübde entbunden zu werden, hatte er einem Freund Briefe einer vermeintlichen Nonne geschrieben, die diesen um Unterstützung bat. Es folgte eine kurze Korrespondenz – und Diderot wurde in sein eigenes Spiel hineingezogen, spürte eine innere Notwendigkeit, die Geschichte der verzweifelten, misshandelten Nonne Suzanne Simonin zu erzählen.
Veröffentlicht wurde der Roman dann erst 1796, Jahre nach dem Tod des Aufklärers und Philosophen Diderot und mitten hinein in die Wirren der Französischen Revolution. Die Zeit schien reif dafür; war es doch zunächst vorbei mit der Allmacht der Kirche.
Nichtsdestotrotz wurde "Die Nonne", die von Fanatismus, gefängnisartigen klösterlichen Strukturen und Sadismus, aber auch von lesbischer Liebe erzählte, im 19. Jahrhundert vor allem auf diesen letzteren, vermeintlich "skandalösen" Aspekt reduziert. Als der Roman schließlich 160 Jahre nach seiner Publikation von Jacques Rivette verfilmt wurde, löste dies erneut massive Protestaktionen aus, orchestriert von der nach wie vor mächtigen katholischen Kirche.
Arte-Dokumentation nimmt Skandalroman in den Blick
Die Dokumentation "Die Nonne – Geschichte eines Skandalromans", die Arte am 31. Januar von 21.55 bis 22.50 Uhr ausstrahlt, erzählt von dieser Jahrhunderte andauernden Verfemung. Aber auch von der historischen, literarischen, (kirchen-)politischen und kulturellen Bedeutung dieses hoch emotionalen Berichts einer fiktiven Nonne.
Filmemacherin Fanny Belvisi hat dafür interessante, eloquente Gesprächspartner gefunden: die Literaturwissenschaftlerin Florence Lotterie, den Autor Eric-Emmanuel Schmitt, die Psychoanalytikerin Isabelle Le Bourgeois, den Philosophieprofessor Paolo Quintili, die Historikerin Elisabeth Lusset, den Filmkritiker Antoine de Baecque sowie die Münchner Literaturprofessorin Barbara Vinken.
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Genug Stimmen, um "Die Nonne" so fachkundig wie multiperspektivisch zu betrachten und zu analysieren – aber eben auch nicht zu viele. Auf Grundlage von Belvisis gekonnter Interviewführung erörtern die Experten den enorm fortschrittlichen Gehalt des Werks, der sich im fortwährenden Kampf der Nonne um Freiheit und individuelles Glück zeigt: So kann die Figur der Suzanne als reinste Verkörperung aufklärerischer Gedanken gelesen werden.
Lotterie, Schmitt, Vinken und Co. betten Roman wie Verfilmung historisch ein, diskutieren den männlichen Blick und eine gewisse Frauenfeindlichkeit hinter der Story sowie deren Einfluss auf den zentralen italienischen Roman "I promessi sposi" (dt. "Die Brautleute"), den Alessandro Manzoni 1827 veröffentlichte. Darüber hinaus geht es in der Doku um die Veränderungen, denen Kirche und Klöster seit dem 18. Jahrhundert ausgesetzt waren, den Effekt von Isolation auf die menschliche Psyche, aber auch das Kino als neuen Konkurrenten der Kirche.
Experteninterview und Archivmaterial
Es sind vielfältige, enorm spannende und durchaus aktuelle Fragen, die hier aufgeworfen werden. Auch in optischer Hinsicht kann der Film, der zu den Experteninterviews Archivmaterial – Filmausschnitte, Gemälde, Stiche, Dokumente – montiert, durch Abwechslungsreichtum und solide Kameraarbeit überzeugen. Einzig die Ebene, die eine junge Frau gewissermaßen als heutige Verkörperung der Suzanne durch das pittoreske Kloster von Moncel wandeln lässt, erscheint gelegentlich ein wenig pathetisch.
So wird ein vielstimmiges Bild eines progressiven, geradezu prophetischen Werks gezeichnet – das einen Teil seines Erfolges ausgerechnet der katholischen Kirche selbst zu verdanken hat: Die Versuche, Rivettes Verfilmung mit Superstar Anna Karina in der Hauptrolle zensieren zu lassen, führten deren enormen Erfolg an der Kinokasse förmlich herbei.