Kritik am Vorgehen der Forschergruppe

Soziologe: Evangelische Missbrauchsstudie statistisch unseriös

Veröffentlicht am 30.09.2024 um 12:56 Uhr – Lesedauer: 

Berlin/Münster ‐ Fast 10.000 Missbrauchsbetroffene in der evangelischen Kirche? Die Zahl einer im Februar vorgestellten Studie hat viele schockiert. Nun macht ein Wissenschaftler hinter die zugrundeliegende Hochrechnung ein großes Fragezeichen.

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Der Religionssoziologe Detlef Pollack hat die erste bundesweite Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als statistisch nicht seriös kritisiert. In einem Beitrag für das Kulturmagazin "Zeitzeichen" verweist der Münsteraner Wissenschaftler darauf, dass in 19 der 20 Landeskirchen lediglich die Disziplinarakten von Pfarrpersonen systematisch durchgesehen wurden und nur in einer Landeskirche auch eine Analyse der Personalakten stattfand. Das Vorgehen der Forschergruppe, die in einer Landeskirche erhobenen Zahl von Missbrauchsfällen auf alle hochzurechnen, sei statistisch nicht vertretbar.

Laut der im Januar vorgestellten Untersuchung fanden sich in den Disziplinarakten aller Landeskirchen Hinweise auf 2.225 betroffene Kinder und Jugendliche und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020. Mit Hilfe der Hochrechnung kamen die Forscher auf fast 10.000 Betroffene und etwa 3.500 Beschuldigte. Basis der Hochrechnung waren Zahlen der relativ kleinen Evangelisch-reformierten Kirche mit Sitz im ostfriesischen Leer, die in ihren Disziplinarakten auf sechs Fälle und in den Personalakten acht Fälle stieß.

Hochrechnung gründet auf 14 Fällen

Die von dem forensischen Psychiater Harald Dreßing vorgenommene Hochrechnung gründet laut Pollack damit nur auf 14 Fällen und sei daher statistisch nicht vertretbar. "Darüber hinaus handelt es sich um eine sehr kleine Landeskirche, die gerade einmal 0,8 Prozent der Mitglieder der in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Kirchen umfasst."

Pollack widerspricht der Kritik von Dreßing, die Landeskirchen seien nicht bereit gewesen, die Personalakten durchzusehen. "Nach meinen Gesprächen in den Landeskirchen und der Lektüre des Abschlussberichts ergibt sich insgesamt das Bild, dass sich beide Seiten mehr vorgenommen hatten, als sie verwirklichen konnten." Vielmehr habe es offenbar ein Zusammenspiel von nicht zu Ende gedachten Vereinbarungen und verwaltungstechnischer Überforderung gegeben. Nach Auskunft mehrerer Verantwortlicher in den Landeskirchenämtern sei von einer Gesamterhebung der Personalakten nie die Rede gewesen, so Pollack. Der Abschlussbericht spreche dann auch davon, dass "aus den einzelnen Verwaltungsebenen der Landeskirchen Stichproben an Personalakten gezogen werden" sollten.

Die Studie hat nach Einschätzung von Pollack aber das Wissen über die Bedingungen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche erweitert. Ins Visier gekommen sei etwa das evangelische Pfarrhaus, das mit seinen vertrauensvollen Sozialbeziehungen der Verdeckung von ausnutzbaren Abhängigkeitsverhältnissen Vorschub leisten könne. (KNA)