Hoff: Es braucht Antworten auf die offenen Fragen des Konzils

Eine im Sprung gehemmte Kirche? Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden viele Türen geöffnet, durch die man jedoch nicht konsequent durchgegangen ist, sagt Gregor Maria Hoff. Der in Salzburg lehrende Fundamentaltheologie greift in einem neuen Buch das widersprüchliche Erbe des Konzils auf: Diese setzten sich in offenen Problemlagen fort, die im Zuge der synodalen Transformation der römisch-katholischen Kirche zunehmend aufbrächen. Im Interview erklärt Hoff, wo die offenen Fragen des Zweiten Vatikanums liegen und vor welchen Herausforderungen ein mögliches nächstes Konzil steht.
Frage: Herr Hoff, es gibt den berühmten Spruch, dass es 100 Jahre dauert, bis ein Konzil vollständig rezipiert ist. Beim Zweiten Vatikanum sind wir jetzt bei 60 Jahren. Wie sieht es also aktuell aus?
Hoff: Dieser Spruch hört sich zwar gut an, kann aber die Komplexität von solchen Rezeptionsprozessen nicht abbilden. Diese laufen auf Umwegen und setzen immer wieder neu und unterschiedlich ein. Wenn man so will, hat etwa die Rezeption des Tridentinischen Konzils im 16. Jahrhundert mindestens bis in 19. Jahrhundert hinein gedauert – und der Sache nach noch sehr viel weiter, weil offene Fragen, zum Beispiel zum Stellenwert des bischöflichen Amtes im kirchlichen Machtgefüge, nicht zuletzt nach seiner Sakramentalität, erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil entschieden wurden.
Frage: Wo genau stehen wir heute bei dem Rezeptionsprozess?
Hoff: Die Rezeption des Konzils hat schon während des Konzils stattgefunden. Diese Prozesse liefen damals im Zuge von Kommentaren – und sie laufen jetzt im Zuge der synodalen Transformation der katholischen Kirche, die mit Papst Franziskus eine hohe Dynamik entfaltet hat. Insofern stecken wir 60 Jahre später in intensiven Rezeptionsprozessen. Angesichts drängender Fragen und Problemlagen stellt sich die Frage, was es braucht, um diese Probleme angemessen bearbeiten und lösen zu können. Braucht es ein neues Konzil? Nicht in diesem Augenblick, weil die synodalen Prozesse erst anlaufen – aber möglicherweise in zehn Jahren, um Entscheidungen zu treffen?
Frage: Bevor wir uns darüber unterhalten: Was war denn aus Ihrer Sicht das Revolutionäre am Zweiten Vatikanum?
Hoff: Es hat der Pluralität von Kirche einen anderen Ort gegeben. Es hat die Globalität von Kirche und der unterschiedlichen kirchlichen Traditionen markiert und eine neue Wissensform entwickelt – nämlich diejenige, dass man sich von anderen Perspektiven, Wahrheitsüberzeugungen und gesellschaftlichen Realitäten relativieren lassen kann. Relativieren heißt, sich zu ihnen in ein produktives Verhältnis zu setzen. Menschenrechte, Religionsfreiheit, Ökumene, die Bedeutung anderer Religionen: Sich davon relativieren zu lassen, ohne die eigenen Überzeugungen und den eigenen Geltungsanspruch aufzugeben, war ein bedeutender Schritt. Es sind viele Türen aufgegangen, durch die man aber konsequent gehen muss.
Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg.
Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie über offene Fragen des Konzils, die man bearbeiten müsste. Welche sind da die entscheidenden?
Hoff: Als Fundamentaltheologe sage ich: Ganz entscheidend ist die Art und Weise, wie man mit Geschichte umgeht. Das Zweite Vatikanische Konzil schafft einen Durchbruch zu einem geschichtlichen Denken bis hin dazu, dass in der Offenbarungskonstitution "Dei verbum" die Lizenz für die historisch-kritische Exegese gegeben wird. Bis zum Konzil stand sie mehr als nur unter Verdacht. Historisches Denken greift wirklich Raum. Doch jetzt kommt das große Aber: Eine wirklich konsequente Selbsthistorisierung der eigenen Wissensform, das heißt, die Konzepte, mit denen man arbeitet, kontextbewusst in den Blick zu nehmen, hat das Konzil nicht geleistet. Da gibt es Anhaltspunkte, die aber nicht entschieden umgesetzt wurden.
Frage: Zum Beispiel?
Hoff: Ein präziserer Blick darauf, wie sich das Amt und die Ämter in der katholischen Kirche entwickelt haben. Lehramtliche Narrative simulieren gerne einen linearen Prozess, den der Heilige Geist einmal angestoßen hat und der im dreistufigen Amt förmlich zum Abschluss kommt. Die Wiedereinrichtung des Diakonats als eigenständiges Amt und nicht nur als Stufe auf dem Weg zum Priesteramt hat das letzte Konzil erst geleistet. Änderungen sind möglich. Ein weiteres Beispiel: Wie wurde die Unfehlbarkeit von Kirche und Papst konstruiert? Im 19. Jahrhundert – das hat Hubert Wolf überzeugend herausgearbeitet – wird auf dem Boden der Tradition ein neues Lehrformat entwickelt. Was bedeuten diese Prozesse für die Selbstbestimmung der Kirche?
Frage: Wie verhält sich denn ein solches geschichtliches Denken zu Glaubenswahrheiten, die für die Kirche überzeitig sind?
Hoff: Aus meiner Sicht exzellent. Erstens, weil sich gerade im geschichtlichen Bestimmen dieser Glaubenswahrheit zeigt, dass der Gott, an den wir glauben, ein Gott ist, mit dem wir unterwegs sind. Das Evangelium ist eine Botschaft, die sich auf dem Weg Jesu mit uns immer wieder neu erschließt. Zweitens, weil dieser Gott für uns ein Gott ist, den wir in der Geschichte und anhand von geschichtlichen Ereignissen bestimmen. Seine Bedeutung zeigt sich nicht zuletzt in dem, was wir Zeichen der Zeit nennen. Das heißt, dass wir einen geschichtlich bestimmten Gottesbegriff haben. Es ist daher notwendig, geschichtlich zu denken. Die Kirche hat durch die Geschichte hindurch unterschiedliche Wissensformen, theologische Konzepte und Organisationsmuster entwickelt. Das, was als "ewige" Wahrheit auftritt, bestimmt sich im geschichtlichen Kontakt mit dem Evangelium – wie sich in Jesus Christus die schöpferische Lebensmacht Gottes an uns vermittelt.
Frage: Sie sprechen nicht nur von offenen Fragen, sondern auch von widersprüchlichen Hinterlassenschaften des Konzils. Welche sehen Sie als die Folgenreichste an?
Hoff: Innerkirchlich ist eines der spannungsreichsten Momente, wie sich das Bischofskollegium zur Vollmacht des Papstes verhält. Im Zusammenhang damit steht die Art und Weise, wie das Konzil vom Volk Gottes spricht und welche Rechte ihm zukommen. Einerseits hinterlässt das Konzil die Figur des Papstes mit absoluten Durchgriffsrechten. Andererseits ist der Papst communial eingebunden. Er bestimmt über die authentische Interpretation des Konzils, gleichzeitig muss sie im Sinne der Konzilsdokumente erfolgen. Ein anderer Punkt: Was bedeuten die Bruchmomente in der eigenen Geschichte? Wer von einer Kirche der Sünder spricht, aber das systemische Moment einer sündigen Kirche ausblendet, produziert einen Kirchenwiderspruch, der die Traditionsbildung betrifft. Das macht der Missbrauchskomplex der katholischen Kirche deutlich. Die Selbstverständlichkeit, mit der die eigene Tradition vom Konzil als authentische Tradition beansprucht wird, erscheint vor diesem Hintergrund fragil. Insofern bilden die Denk- und die Organisationsform einen kirchlichen Zusammenhang: ein auf zwei miteinander verbundenen Ebenen auftretendes Widerspruchsproblem.
„Die Kirche hat durch die Geschichte hindurch unterschiedliche Wissensformen, theologische Konzepte und Organisationsmuster entwickelt. Das, was als "ewige" Wahrheit auftritt, bestimmt sich im geschichtlichen Kontakt mit dem Evangelium – wie sich in Jesus Christus die schöpferische Lebensmacht Gottes an uns vermittelt.“
Frage: Sind die aktuellen Debatten um eine synodale Kirche sozusagen sowas wie eine Weiterführung der damaligen Debatten?
Hoff: Sie hängen mit ihnen zusammen, weil die katholische Kirche gegenüber dem ekklesiologischen Lehrdokument des Ersten Vatikanischen Konzils viel stärker die Kollegialität und vor allen Dingen die Bedeutung des ganzen Volkes Gottes profiliert. Man gibt beispielsweise dem Glaubenssinn der Gläubigen einen anderen Raum. Neu ist das viel größere Portfolio an Herausforderungen. Wir haben es mit einer radikaleren Form von Pluralisierung, auch innerhalb der katholischen Kirche, zu tun als noch vor 60 Jahren. Es stellt sich die Frage, wie die Kirche angesichts globaler Megatrends über sich selbst als communio nachdenkt. Communio ist immer noch ein recht hierarchisch gefasstes Konzept – mit einer klaren Zuordnung, wer sie leitet. Die synodale Transformation führt entlang neuer und jeweils auch ortsbezogen anderer Herausforderung dazu, dass diese Kirche eine höhere Dynamik in der Wechselwirkung von Orts- und Universalkirche erreicht und erreichen muss. Denn das Komplexitätsniveau der Probleme, vor denen sie steht und unter denen sie das Evangelium verkünden muss, ist ein ganz anderes.
Frage: Das alles heißt für ein mögliches nächstes Konzil …
Hoff: … dass es sich auf den religionskulturellen Plausibilitätswandel der vergangenen Jahre und Jahrzehnte konturschärfer einstellen muss. Was bedeuten Säkularisierungsprozesse, die sehr umwegig und unterschiedlich laufen, für die Darstellung des eigenen Glaubens? Damit sind konkrete Fragen kirchlichen Lebens verbunden – Fragen, die etwa auf dem synodalen Weg der Kirche in Deutschland im Zuge des Missbrauchskomplexes diskutiert worden sind und auch, mit unterschiedlicher Intensität, in der Weltkirche eine Rolle spielen: Frauenordination, Priesterbild, der Umgang mit Macht. Das sind entscheidende Fragen, die theologisch bestimmt sind. Nicht zuletzt müssen wir noch einmal neu über das Verständnis von Offenbarung nachdenken. Und wir müssen uns fragen, wie wir mit unserer eigenen spannungsreichen Tradition umgehen.
Frage: Unter Papst Franziskus ist in Sachen Synodalität viel in Bewegung gekommen. Wie wird es unter Leo XIV. weitergehen?
Hoff: Seit dieser Woche ist klar, dass Leo XIV. die synodale Transformation fortsetzt. Auf diesem Weg muss sich zeigen, wie ein synodales Verständnis des Papstes aussehen könnte. Das erfordert die Bereitschaft, kirchlich ins Risiko zu gehen. Ein synodaler Papst muss synodale Entscheidungen respektieren. Leo XIV. scheint jemand zu sein, der vorsichtig, sensibel, auch differenzbewusst versucht, Tradition und reformorientierten Aufbruch miteinander zu verbinden. Es wird sich zeigen, ob er den synodalen Prozessen wie dem in Rom zuletzt die Entscheidungskompetenz gibt, die Franziskus ihnen gegeben hat. Wie Leo das alles organisiert, ist offen. Bei Franziskus war das Paradoxe, dass er mit autoritären Entscheidungen eine synodalere Kirche ermöglicht hat.
Das Buch
Gregor Maria Hoff: Widersprüchliche Hinterlassenschaft. Das Zweite Vatikanische Konzil und seine ungelösten Probleme, Verlag Herder 2025, 216 Seiten, ISBN: 978-3-451-02665-2, 28 Euro.