Wie eine Begleitung bei Sterbewünschen aussehen kann

Seelsorger: Wunsch nach assistiertem Suizid kann Familien spalten

Veröffentlicht am 22.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Mit dem Fall der Kessler-Zwillinge ist die Diskussion über assistierten Suizid wieder aufgeflammt. In ihrer Arbeit sind auch die beiden Schweizer Klinikseelsorger André Böhning und Silke Winkler mit Sterbewünschen konfrontiert. Wie sie damit umgehen, erzählen sie im Interview mit katholisch.de.

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Der assistierte Suizid der Kessler-Zwillinge sorgt derzeit für Diskussionen. Auch Seelsorgerinnen und Seelsorger sind bisweilen mit Sterbewünschen konfrontiert, etwa bei der Arbeit im Krankenhaus. Für sie kann sich ein Dilemma auftun: Einerseits ist da der Respekt vor der Autonomie des anderen, auf der anderen Seite stehen die eigenen, mit dem Glauben verbundenen Überzeugungen. Im Interview mit katholisch.de berichten die Schweizer Spitalseelsorger André Böhning und Silke Winkler, wie sie mit dieser Situation umgehen – und dass sich mancher zunächst geäußerte Sterbewunsch eines schwerkranken Menschen dann doch als etwas anderes entpuppt.

Frage: Frau Winkler, Herr Böhning, welche seelsorglichen Ansatzpunkte haben Sie, wenn schwerkranke Menschen Sterbewünsche äußern oder konkrete Gedanken zu einem assistierten Suizid haben?

Winkler: Am Anfang steht das Zuhören und Verstehen, in welcher Situation sich der Betroffene befindet. Seelsorgerliche Begleitung bedeutet das Aushalten des Leids ohne gleich eine Antwort darauf zu geben oder den Sterbewunsch zu bewerten.

Böhning: Ich erinnere mich an einen Patienten, der hörte die Diagnose "Krebs" – und sah rot. Er wollte sofort zu Exit, der Organisation, die in der Schweiz quasi synonym für Sterbehilfe steht. Eben noch sah er sich gesund und im nächsten Augenblick schwer krank im weit fortgeschrittenen Stadium. Wenn man solche Reaktionen zunächst in Ruhe ordnet, reduzieren sich die Sterbewünsche oder verschwinden. Später war es bei ihm kein Thema mehr.

Winkler: Manchmal ist der Sterbewunsch eben wie ein letztes Hintertürchen, das hilft, die eigene Situation im Hier und Jetzt besser zu ertragen.

Silke Winkler und  André Böhning im Portrait
Bild: ©privat

Silke Winkler und André Böhning, Autoren des Buches "So will ich nicht weiterleben".

Frage: Wie können Sie als Seelsorger Menschen in solchen Situationen helfen?

Winkler: Häufig steckt hinter einem Sterbewunsch die Angst vor dem Verlust der eigenen Autonomie und Würde: Sich nicht mehr alleine versorgen können und so den anderen zur Last zu fallen. Es entstehen Schamgefühle durch die Folgen der Krankheit: Mein Partner soll mich nicht so sehen. Unsere Aufgabe als Seelsorgende ist es, solchen Gefühlen Raum zu geben, sie anzuerkennen. Das bewirkt schon viel.

Böhning: Im Unterschied zu Pflege, Psychologie oder Medizin haben wir eine wertvolle Ressource: Zeit. Momentan begleite ich einen Patienten, der im Sterben liegt, von dem wir wenig wissen. Seine Angehörigen kommen nicht. Ich setze mich zu ihm, immer wieder. Für das Pflegeteam ist es eine Entlastung, dass sie wissen, ein Patient stirbt nicht allein. Wenn Patienten einen inneren Zugang zu religiösen Bildern und zur Bibel haben, verweise ich manchmal auf den Kreuzweg Jesu: Er zeigt Erfahrungen, die der Patientensituation ähnlich sein können. Der Kreuzweg erzählt vom Gefühl, einsam, verlassen und manchmal verraten zu sein, vom Fallen und Wiederaufstehen. Er zeigt, dass am Wegesrand Menschen stehen können, mit deren Hilfe man nicht gerechnet hat. Das sind Bilder, die auf Lichtpunkte und solidarische Momente auf einem nicht zu ändernden Weg hinweisen.

Frage: In Deutschland wird gerade der gemeinsame assistierte Suizid der Zwillinge Alice und Ellen Kessler kontrovers diskutiert. Wie sehen Sie diesen Fall?

Böhning: Aus den aktuell verfügbaren Medienberichten erschließt sich mir der Sachverhalt zu wenig, besonders was den Gesundheitszustand der Zwillinge angeht. Daher nehme ich dazu keine Einschätzung vor. Wenn das Vorgehen der Kessler-Zwillinge aber in Deutschland eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid beschleunigt, wäre das ein hilfreicher Effekt. Eine fraktionsübergreifende Gruppe ist ja an dem Thema dran. Noch mehr braucht es einen gesellschaftlichen Diskurs über den Umgang mit Erkrankungen, den Umgang mit existentiellen Situationen, Alter und unsere Sterbekultur.

Frage: Inwiefern ist der Glaube Menschen in existenziellen Situationen am Lebensende eine Stütze?

Winkler: Der Glaube kann eine große Stütze sein. Das eigene Leben in Gottes Hand legen zu können, kann gläubigen Menschen Gelassenheit und Halt geben. Der richtige Zeitpunkt zum Sterben wird kommen. Er liegt in Gottes Hand. Zudem besteht die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und eine bleibende Verbundenheit mit seinen Lieben.

Böhning: Der Glaube kann aber auch eine Last sein. Alte oder kranke Menschen fragen sich, warum mutet mir Gott das zu? Sie hadern mit Gott. Unser Glaube verspricht aber keine Leidfreiheit, sondern Halt und Trost in schweren Zeiten.

Frage: Wie können Sie für Menschen da sein, die sich für einen assistierten Suizid entscheiden? Geraten Sie da nicht an Ihre Grenzen?

Böhning: Solche Situationen können Seelsorger:innen tatsächlich in einen inneren Zwiespalt bringen. Jeder muss für sich klären: Wie weit kann und will ich mitgehen? Der Glaube bietet da unterschiedliche Ansatzpunkte. Es gibt das ‚No-Go‘, das Leben selbst zu beenden. Es gibt aber auch die Haltung, sich ganz in den Dienst des Anderen zu stellen. Ich persönlich gehe bei einem assistierten Suizid im Falle einer unheilbaren Krankheit oft weit mit, aus Respekt vor der autonomen Entscheidung der Menschen. Das bedeutet nicht, dass ich das Vorgehen gutheiße.

Winkler: Ich habe es in meiner Arbeit noch nie erlebt, dass ein schwerkranker Mensch leichtfertig in einen assistierten Suizid gegangen ist. Es sind bewusste, oft schmerzlich abgewogene Entscheidungen, die über einen gewissen Zeitraum reifen – ein Prozess, den wir Seelsorgende bisweilen hautnah mitbekommen. In mir gibt es dann ein Ringen um eine Haltung, die meinen eigenen Überzeugungen gerecht wird, aber auch dem tiefen Verständnis für das Leid des Anderen Raum gibt. In der Begegnung mit Betroffenen können wir respektvoll dem fraglichen Willen nachspüren: Den Ursprung des Sterbewunsches erkunden, prüfen, ob Einflüsse von außen vorliegen und wie der Sterbewunsch zum bisherigen Selbstverständnis des Betroffenen passt.

Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen für jemanden, den Sie in den assistierten Suizid begleitet haben?

Böhning: Ein Patient, Anfang siebzig, erkrankte an Chorea Huntington. Die Krankheit zerstört wichtige Teile des Gehirns. Der Patient hatte für sich festgelegt: Er will einen assistierten Suizid, sobald er nicht mehr kommunizieren kann. Als dann seine Sprache verwaschener wurde, hat er festgelegt, er ‚geht‘ im September. Dann schritt die Krankheit überraschend langsamer voran und er verschob den Termin – auf Februar. Am Ende lag sein Sterbedatum dazwischen, am 27. Dezember. Seinen Sterbewunsch und den ganzen Prozess wollte der Mann mit seiner Ehefrau abstimmen. Bei diesen Gesprächen war ich dabei. Die Frau selbst ist vom Fach, sie hätte ihn pflegen können. Sie konnte seine Entscheidung verstehen, auch wenn sie das emotional kaum aushielt. Eine Entscheidung für einen Assistierten Suizid birgt auch ein Konfliktpotential: Stellen Sie sich das einmal für ihre eigene Familie vor! Jemand ist sterbenskrank und kündigt einen Suizid an. Angehörige haben dazu unterschiedliche Meinungen. Es kann Familien spalten. Auch Ambivalenzen oder Schwankungen in der eigenen Position sind in solchen Prozessen allgegenwärtig und normal – bei Angehörigen, bei Pflegeteams, bei den Betroffenen selbst. All das versuche ich zu begleiten. Bei der Ehefrau des genannten Patienten stand die Ambivalenz im Vordergrund, das Verschieben des Sterbedatums als belastend zu empfinden und gleichzeitig ihn nicht gehen lassen zu wollen.

„Ich persönlich gehe bei einem assistierten Suizid oft weit mit, aus Respekt vor der autonomen Entscheidung der Menschen. Das bedeutet nicht, dass ich das Vorgehen gutheiße.“

—  Zitat: André Böhning

Frage: Wie sehen Sie die Rolle der kirchlichen Lehre in diesem Zusammenhang?

Böhning: "Die Kirche" wird lernen müssen, die Autonomie des Einzelnen zu respektieren statt in einen Kulturkampf abzugleiten. Moralische Urteile helfen niemandem. Einen solchen Ton schlug zum Beispiel zunächst noch die Reaktion der Bischofskonferenz auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Straffreiheit der Suizidbeihilfe im Jahr 2020 an.

Winkler: Leid ist sehr persönlich. Jeder Mensch erlebt es auf seine eigene Weise. Die Kirche darf Menschen nicht absprechen, selbst zu beurteilen, was für sie erträglich ist und was nicht.

Frage: Wie könnte die Kirche noch konstruktiver mit dem Thema assistierter Suizid umgehen?

Böhning: Das Thema ist für die Kirchen mehr Chance als Problem. Gerade bei existenziellen Fragen wird ihr offensichtlich Kompetenz zugeschrieben. Das spüren wir als Seelsorger vor Ort. Wir sind als Gesprächspartner bei diesem Thema gefragt.

Winkler: Die Kirche könnte Gesprächsräume zum Thema Endlichkeit, Sterben und Tod und damit auch zum assistierten Suizid zu schaffen. Dies macht es dann vielleicht auch leichter, das Gespräch darüber im eigenen Familienkreis zu führen. Erfahrungsgemäß besteht eine große Hemmschwelle, über den Tod zu sprechen, auch unabhängig vom Assistierten Suizid. Dabei kann gerade der Austausch darüber entlastend und befreiend sein.

Von Gabriele Höfling

Buch: So möchte ich nicht weiterleben

Das Buch "So möchte ich nicht weiterleben – Sterbewünsche und Assistierter Suizid als Herausforderungen für die Seelsorge" von André Böhning und Silke Winkler beschäftigt sich mit Seelsorge im Kontext von Sterbewünschen. Die Autoren beleuchten unter anderem die verschiedenen Ursachen von Sterbewünschen und gehen auch auf den veränderten gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema ein. Das Buch erscheint Anfang 2026 im Herder-Verlag und umfasst 256 Seiten.