Wo die Gewalt Alltag ist
Zögerlich heben sich die ersten Finger. Ein Mädchen schlägt vor, das Wasser vorher zu trinken. Eine andere findet, Frauen und Kinder sollten zuerst etwas bekommen. Ein 15-Jähriger nimmt schließlich forsch die Flasche an sich. Empörtes Raunen. Jorge Sandoval lächelt: "Gleich erleben wir, wie sich 40 Jugendliche um eine einfache Wasserflasche streiten."
Es ist Samstagmittag im Gemeindesaal von Santa Catarina Pinula, einem Vorort von Guatemala-Stadt: Das Menschenrechtsbüro der Erzdiözese Guatemala - Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala (ODHAG) - veranstaltet einen Workshop für Jugendliche zu gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien. "Wir zeigen ihnen, dass unterschiedliche Interessen zu Konflikten führen können", erklärt Jorge Sandoval, "und wie man sie durch Verhandlungen, Verständnis und Kompromisse lösen kann."
Gewalt ist für die meisten Jugendlichen Alltag
Denn für die meisten Jugendlichen ist Gewalt Alltag: Guatemala hat eine der höchsten Mordraten der Welt, 18 Menschen werden durchschnittlich jeden Tag getötet. Fast 20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges sterben mehr Menschen durch Gewalt als zu Zeiten des bewaffneten Konfliktes.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Guatemala ist das Nadelöhr, durch das Drogenschmuggler und Hunderttausende Migranten auf ihrem Weg Richtung USA müssen. Korruption und Straflosigkeit haben ein Netz von Gewalt, Prostitution, Waffen-, Drogen- und Menschenhandel gefördert. Zudem sei die gesellschaftliche Ungleichheit enorm, sagt Nery Rodenas, der langjährige Leiter von ODHAG. "Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut und hat keine Chance auf Verbesserung ihrer Situation. Die Forderungen des Friedensvertrags nach dem Bürgerkrieg wurden nicht erfüllt. Es gab keine Aufarbeitung, keine Gerechtigkeit."
Von dieser Realität in Guatemala wird Ernestina López Bac erzählen, die als langjährige Projektpartnerin von Adveniat während der Adventszeit in Deutschland zu Gast sein wird. Der zierlichen Dame in traditioneller Maya-Kleidung ist in den 1950er Jahren etwas Bemerkenswertes gelungen: Als Angehörige der Kaqchikel-Ethnie und zudem noch als Frau besuchte sie mit einem Stipendium die Schule und studierte später Psychologie, Pädagogik und Theologie - ein außergewöhnlicher Weg, denn der Zugang zu Bildung war und ist für Indígenas in Guatemala nicht selbstverständlich. Auch heute leben sie überwiegend in Armut, sie werden diskriminiert und marginalisiert. Die Gewalt des Bürgerkrieges, der mit über 200.000 Toten als einer der längsten und blutigsten auf dem Kontinent gilt, richtete sich primär gegen sie.
Auch Ernestinas Vater, ein Katechist, wurde während des Bürgerkrieges getötet: kein politischer Aktivist, aber ein Mann, der sich für die Indígenas und ihre Rechte einsetzte. Weil er die Ungleichheit in seinem Land offen kritisierte, war er schnell als Kommunist verschrien; ein lebensgefährlicher Vorwurf im Guatemala der 1980er Jahre. Seine Mörder wurden bis heute nicht belangt.
Wie Ernestina verloren Hunderttausende in Guatemala damals ihre Angehörigen. Aber in einem Land, in dem 98 Prozent der Straftaten nicht verfolgt werden, warten viele bis heute auf Gerechtigkeit. Ernestina hat nach langem inneren Ringen den Mördern ihres Vaters verziehen. "Ich bete für sie", sagt sie, "denn sonst wird der Kreislauf der Gewalt ewig weitergehen." Sie stellt heute ihr Wissen und ihr Engagement in den Dienst der indigenen Gemeinden als verantwortliche Koordinatorin für Indígena-Pastoral bei der guatemaltekischen Bischofskonferenz.
Julio Cabrera Ovalle und Guillermina Herrera Peña sind auf Einladung des Bistums Rottenburg-Stuttgart zur Eröffnung der Adveniat-Aktion an diesem Sonntag nach Stuttgart gereist. Cabrera war in den 1980er Jahren Bischof der Diözese Quiché. Nirgendwo sonst in Guatemala wütete der Bürgerkrieg so sehr wie dort. Es gab Massaker an der Zivilbevölkerung, hunderte Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Menschen wurden getötet, gefoltert oder sie "verschwanden".
Cabrera stand stets an der Seite der Menschen. Sich für die Indígenas und ihre Rechte einzusetzen, sieht er bis heute als seine Lebensaufgabe. Guillermina Herrera leitet das "Guatemaltekische Institut für Radioschulen" (IGER), das jenen Menschen eine Chance auf Bildung gibt, die nicht zur Schule gehen können. Mit landesweit ausgestrahlten Radioprogrammen können sie zu Hause lernen und sogar einen offiziell anerkannten Schulabschluss erwerben. Ihr Motto: Wenn Menschen der Weg in die Schule versperrt ist, muss der Lehrer ins Haus kommen.
Nah bei den Menschen sein
Auch Bernabé Sagastume ist Gast der Adventsaktion von Adveniat, die in diesem Jahr unter dem Motto "Frieden jetzt! Gerechtigkeit schafft Zukunft" steht. Sein Bistum Santa Rosa de Lima im Osten Guatemalas ist eine konfliktreiche Region: Es geht um Bodenschätze, um die Interessen multinationaler Konzerne und um Profit. Bischof Sagastume mischt sich ein und legt sich mit den Mächtigen des Landes an, denn er möchte ein Oberhirte sein, der nah bei den Menschen ist und jenen eine Stimme gibt, die sonst nicht gehört würden.
Was er unter Gerechtigkeit versteht? "In einem Land, in dem Recht käuflich ist", sagt er nachdenklich, "in dem die Straflosigkeit groß und die Korruption hoch ist und wo Richter bestechlich sind, gibt es keine Gerechtigkeit. Hier wird ein Recht angewandt, wenn es Interessen dient, bei Menschen, die sich nicht wehren können. Was wir uns wünschen, ist ein Recht, das auf Wahrheit beruht, auf Nächstenliebe und auf der Versöhnung. Erst dann kann es Gerechtigkeit geben und mit ihr einen wahren Frieden."