Der Mainzer Kardinal Lehmann zieht Bilanz

"Späte Freiheit"

Veröffentlicht am 04.05.2016 um 14:10 Uhr – Von Peter de Groot (KNA)  – Lesedauer: 
Kardinal Karl Lehmann im Porträt
Bild: © KNA
Bistum Mainz

Mainz ‐ Kardinal Karl Lehmann hat am Pfingstmontag wohl seinen letzten Arbeitstag. Im Interview blickt er zurück: Auf das Konzil und seine Zeit als Vorsitzender der Bischöfe. Und er erklärt, warum er ein Fan von Franziskus ist.

  • Teilen:

Frage: Herr Kardinal, ohne das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), haben Sie einmal gesagt, könnten Sie sich gar nicht denken. Was meinen Sie damit?

Lehmann: Natürlich wollte ich auch schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil Priester werden. Aber das Konzil mit seinen legitimen Folgen brachte für mich einen geschichtlich unbedingt notwendigen, zeitlichen und spirituellen Spielraum der Erneuerung der Kirche unter Verwendung vieler wissenschaftlich-theologischer Ergebnisse und pastoraler Erfahrungen, die ich keinesfalls missen möchte. Daran mitzuarbeiten hat mir viel Freude und Zufriedenheit geschenkt, freilich auch unter der Bedingung eines hohen Einsatzes dafür.

Player wird geladen ...
Video: © katholisch.de

Kardinal Karl Lehmann ist tot. Im Mai 2016 blickte er im Interview mit katholisch.de auf sein Leben zurück. Außerdem verriet er zum Ende seiner Amtszeit als Bischof von Mainz seine Buch-Pläne.

Frage: Von 1987 bis 2008 waren Sie Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Das brachte Ihnen Etikettierungen wie der "Lotse", der "Prellbock", die "Stimme der deutschen Katholiken" ein. Wie sehen Sie selbst Ihre Zeit als Vorsitzender im Rückblick? Gab es Sachen, die Sie heute anders machen würden?

Lehmann: Ich kümmere mich nicht um die Etiketten, die man für mich in dieser Zeit hatte. Darunter sind ja nicht nur wohlwollende, wie die von Ihnen genannten. Es gibt auch verleumderische Bezeichnungen, wie zum Beispiel "Lehmann-Kirche". Ich habe in den 21 Jahren die Chancen für eine wirksame Präsenz der Kirche in unserer Gesellschaft zu nützen versucht, freilich ohne die eigene Substanz zu verlieren oder zu gefährden. Es ist ja nicht so, dass man bei einer solchen Aufgabe alles selbst "macht". Gott sei Dank steuern viele mit. Die geschichtlichen Umstände sind oft vorgegeben. Viele Partner in Kirche und Welt begleiten positiv oder negativ die Verantwortlichen. Die Medien spielen ihre Rolle. Manches gelingt nicht, einiges nur in dosierter Form. Da hat es in meinen Augen wenig Sinn zu spekulieren, was man heute anders machen würde. Denn "es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen", sagte schon Heraklit.

Frage: Die katholischen Bistümer in Deutschland und die evangelischen Landeskirchen haben so viel Geld und so viel Personal wie nie zuvor. Gleichzeitig schreitet hierzulande die Glaubens- und Gotteskrise weiter voran. Woran liegt das?

Lehmann: Ich wehre mich, beides - das viele Geld und die Gotteskrise - allzu schnell in eine Nähe zueinander zu bringen. Es geht nicht nur um die Versuchung durch viel Geld. Es geht recht vielen in unserer Gesellschaft mehr als gut. Der Wohlstand scheint jedoch Religion überflüssig zu machen. Dagegen lässt sich bei der notwendigen Freiheit zur Annahme oder Ablehnung von Religion nicht so leicht etwas ändern. Aber ich bin überzeugt, dass die Suche nach Sinn und nach einer Antwort auf die Rätsel des menschlichen Lebens nicht zum Schweigen gebracht wird oder Ersatzantworten auf die Dauer zufriedenstellen. Ich vergesse aber auch nicht die Enttäuschungen, die wir Menschen der Kirche - ob es wenige oder viele sind - einer besseren Aufnahme der Botschaft des Evangeliums in den Weg stellen, wie zum Beispiel in diesen Jahrzehnten der sexuelle Missbrauch oder auch die Limburger Affäre.

Linktipp: Lehmann nimmt kein Blatt vor den Mund

XXL-Pfarreien, verheiratete Priester und sein Amtsbruder Joachim Meisner: Kardinal Karl Lehmann gibt in seinem Interview-Buch "Mit langem Atem" kurz vor seinem 80. Geburtstag tiefe Einblicke.

Frage: Sie sind einer der wichtigsten ökumenischen Theologen, stehen für ökumenische Offenheit. Wie sehen Sie es kurz vor dem im nächsten Jahr anstehenden 500-Jahr-Gedenken der Reformation um die Ökumene bestellt?

Lehmann: Wir leben zwar nicht in einer ökumenischen Eiszeit, wie manche gelegentlich meinen, aber es gibt doch trotz so vieler Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten im ökumenischen Klima Müdigkeit und auch Gleichgültigkeit. Es gibt auch einen einschneidenden Generationswechsel unter den Ökumenikern aller Art. Aber im Blick auf den Ruf des Herrn zur Einheit dürfen wir nicht einen langsameren Gang einschalten. Ich hoffe, dass das Reformations-Gedenkjahr 2017 uns wieder zu größerem Einsatz anfeuert. Unter der Asche glüht noch das Feuer.

Frage: Als Mitglied des Kardinalskollegiums nahmen Sie im März 2013 an dem Konklave teil, aus dem Papst Franziskus hervorging. Sie gaben seither wiederholt zu erkennen, dass Sie viel von Franziskus halten. Was sind die Gründe?

Lehmann: Es sind viele Gründe. Es war Zeit, dass in dieser Weltkirche von 1,2 Milliarden Katholiken auch einmal ein Nicht-Europäer mit eigenen Erfahrungen zum Zug kommt. Bergolio war durch seinen Glaubensmut vielversprechend und vielen ein Vorbild. Vor allem brachte der Erzbischof von Buenos Aires durch sein Leben und sein Wirken eine hohe Glaubwürdigkeit mit. Mir hat theologisch imponiert, wie er die Kirche, die er liebt, immer wieder vor dem Zurückfallen auf sich selbst warnt und sie auf die vielen Menschen an den Rändern unserer Welt hinweist, die uns brauchen. Eindrucksvoll verbindet Papst Franziskus mit seinen Worten immer schöpferisch Gesten und Symbole. Er setzt auch eindrucksvoll auf das engagierte Mitwirken vieler Ortskirchen mit ihren eigenen Gaben. Er ist kein Autokrat und hat nicht nur uns Katholiken, sondern auch anderen Kirchen und Religionen, mit denen er authentisch im Dialog sein will, neuen Geschmack an Religion und Glauben gebracht. Dies gilt auch für viele, die den Glauben verloren hatten, und nicht wenige, die suchen.

Bild: ©Matthias Wilm/Fotolia.com

In der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz war Kardinal Lehmann über Jahrzehnte Bischof.

Frage: Sie haben kürzlich in einem Vortrag von der "späten Freiheit" des Alters gesprochen. Was macht diese Freiheit aus?

Lehmann: Das Wort "späte Freiheit", angewandt auf das Alter, ist ein Buchtitel des bekannten Pioniers der Altersforschung, Leopold Rosenmayr (1925-2016), aus dem Jahr 1985, und meint, dass das Alter uns, wenn wir offen bleiben und auch die Chancen dieser Lebensphase bewusst annehmen, reich beschenken kann. Die Menschen sind von Berufspflichten entlastet, sie haben viel Erfahrung, sie können sich zu wesentlichen Werten hinwenden, sie haben dafür Zeit, sie sind unabhängig und darum können sie auch verlässlich sein.

Die Minderungen des Lebens müssen damit nicht verdrängt und geleugnet werden. Dazu gehört freilich auch Ehrlichkeit im Blick auf das bevorstehende Ende des menschlichen Lebens. Deswegen müssen wir immer in einer gewissen Distanz zu den irdischen Dingen abschiedlich leben, ohne dass wir nicht genießen dürften. Der alternde Mensch nimmt die Chancen der ihm geschenkten Zeit wahr, kann ihre Zumutungen ertragen und darf in diesem Sinne auch eine zwar endliche, aber wahre Erfüllung auskosten. Dies ist, wenn uns das Alter als eigene Lebensphase geschenkt wird, die Möglichkeit der "späten Freiheit", besonders wenn sie in den früheren Lebensaltern nicht oder falsch genutzt worden ist.

Frage: Sind Sie mit Ihren nun bald 80 Jahren in diesem Sinne frei?

Lehmann: Ich wünsche mir eine solche "späte Freiheit" und hoffe auf sie, aber sie ist immer ein unberechenbares Geschenk von Gott selbst.

Von Peter de Groot (KNA)