Vor 20 Jahren brannte in Solingen das Haus der Familie Genc

"Möge Gott den Tätern vergeben"

Veröffentlicht am 29.05.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Gedenken

Solingen ‐ Das Dach weggebrannt, die Fenster im Inferno zerplatzt, das Wohnhaus eine Ruine. In den Flammen des Hauses in der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen starben am 29. Mai 1993 durch einen Brandanschlag fünf Mitglieder der türkischen Familie Genc. Das Feuer war der traurige Höhepunkt einer Reihe rechtsextremistischer Anschläge in Deutschland wenige Jahre nach der Wiedervereinigung.

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Wo einst das Haus war, stehen 20 Jahre nach dem Anschlag fünf Kastanien für die Opfer im Alter zwischen 4 und 27 Jahren. Ihre Namen sind auf einer kleinen Metallplatte in der stillen Wohnstraße eingraviert. Mevlüde Genc verlor hier zwei Töchter, Enkelinnen und eine Nichte; 14 Familienmitglieder überlebten mit teils schwersten Brandverletzungen. Die 70-Jährige besucht einmal im Monat den Ort der Katastrophe. "Wenn sie nicht hinginge, würde sie sich nicht wohlfühlen", sagt ihr Dolmetscher.

Was in der Nacht zu Pfingstsamstag 1993 geschah, erzählt Mevlüde Genc ihren kleinen Enkelkindern bis heute nicht. "Sie werden im Erwachsenenalter erfahren, was genau passiert ist", sagt sie. Die Täter hätten eine gerechte Strafe erhalten, bekräftigt die Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck. Drei hatten Jugend-Höchststrafen von 10 Jahren, einer hatte 15 Jahre Haft bekommen. Inzwischen sind alle längst wieder auf freiem Fuß.

"Ich wünsche mir, dass Gott den Tätern vergibt"

"Da die Strafe abgesessen ist, ist das Thema insoweit erledigt", sagt die gläubige Muslimin. Alles andere betreffe die Zeit nach dem Tod und vor Gott. "Der Islam ist die Religion der Barmherzigkeit. Ich wünsche mir, dass Gott den Tätern vergibt. Wenn Gott vergibt, dann werden die Menschen auch vergeben."

Ebenso wenig wie an Rache hat Mevlüde Genc an eine Rückkehr in die Türkei gedacht. Stattdessen hat sie 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. "Ich will Deutsche sein." Im Alter von 27 Jahren sei sie in die Bundesrepublik gekommen und habe sich an das Leben hier sehr gewöhnt. "In Solingen kenne ich jede Straße. Heute könnte ich in der Türkei gar nicht so leben wie hier."

Mevlüde Genc.
Bild: ©picture alliance / dpa/Marius Becker

Mevlüde Genc.

"Lasst uns Freunde sein"

Dass die Gencs in Solingen geblieben sind, dafür ist die Stadt dankbar. In der aufgewühlten Stimmung nach dem Brandanschlag, als wütende türkische Jugendliche durch die Stadt zogen, meldete sich Mevlüde Genc zu Wort. "Lasst uns Freunde sein", sagte sie in einem ergreifenden Appell. Es sei der Glaube, der ihr die Kraft gegeben habe, nur wenige Tage nach dem Brandanschlag auf die Deutschen zuzugehen. Seitdem tritt sie immer wieder für Verständigung und Dialog ein, hat das Bundesverdienstkreuz bekommen und den Bundespräsidenten mitgewählt.

Die Familie Genc nimmt auch an der offiziellen Gedenkfeier der Stadt teil und begrüßt die Gäste gemeinsam mit Oberbürgermeister Norbert Feith (CDU). Nordrhein-Westfalen wird durch die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Grüne) vertreten, die seit langem in Solingen lebt. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, hat ihr Kommen zugesagt. Anschließend geht es zu dem Mahnmal, das vor einem Berufskolleg steht: Es zeigt einen Mann und eine Frau, die ein Hakenkreuz zerreißen.

Anerkannte Integrationsarbeit

Die Stadt hat das Erbe des Anschlags angenommen: Man müsse es als Auftrag gestalten, sagt der Oberbürgermeister. Die Integrationsarbeit der Industriestadt ist inzwischen anerkannt, es gibt feste Verbindungen zu Zuwanderern. Als etwa im Mai 2012 radikale islamistische Salafisten in Solingen einen Stützpunkt aufmachten, formulierten Stadt und muslimische Vereine eine gemeinsame Erklärung und organisierten ein Informationsprogramm.

Seit einem Jahr hat Solingen zudem einen Mercimek-Platz, benannt nach dem türkischen Heimatort der Familie Genc. Heute jedoch sei Solingen ihre Heimat, sagen Mevlüde und ihr Mann Durmus Genc. Ihr Sohn Kamil sieht das auch so: "Ich bleibe hier." (stz/dpa/KNA)