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"Die Fürsorge für Flüchtlinge ist Teil unserer christlichen Identität"

Dokumentation des Pressegespräches mit Erzbischof Dr. Stefan Heße Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz am 12.11.2015 in Hamburg.

Video: © katholisch.de

Das Statement von Erzbischof Stefan Heße im Wortlaut:

1. Wir werden in unseren Tagen Zeugen einer Fluchtbewegung, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Im Jahr 2014 waren weltweit etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Dieser traurige Höchststand dürfte dieses Jahr noch einmal deutlich übertroffen werden. Allein in Deutschland wurden seit Jahresbeginn über 750.000 Flüchtlinge aufgenommen. Was zuvor für viele Menschen ein abstrakter Gedanke war, wird nun im Alltag erfahrbar: Wir sind Teil einer globalen Schicksalsgemeinschaft. Angesichts der großen Zahl von Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, muss die von Papst Franziskus geforderte „Globalisierung der Nächstenliebe“ direkt in unserer Nachbarschaft stattfinden. Als Kirche sind wir in doppelter Weise gefordert: Die Fürsorge für Flüchtlinge und Migranten ist Teil unseres Selbstverständnisses – und zugleich haben wir stets das Wohl der gesamten Gesellschaft im Blick.

2. Bei unserer jüngsten Herbst-Vollversammlung befassten wir Bischöfe uns im Rahmen eines Praktikergesprächs auf anschauliche Weise mit aktuellen Flüchtlingsfragen. Prägend war für uns dabei ein deutliches Wort, das Papst Franziskus uns mit auf den Weg gibt: „Die christliche Hoffnung ist kämpferisch.“ Als Christen sind wir dazu berufen, den Notleidenden und Schutzsuchenden unserer Tage „eine konkrete Hoffnung zu geben“ und sie nicht einfach mit leeren Worten zu vertrösten. Diese programmatische Aufforderung wird Tag für Tag auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zur greifbaren Realität: Die 27 deutschen Diözesen, die Caritasverbände, Hilfswerke, Ordensgemeinschaften und nicht zuletzt die über 100.000 ehrenamtlichen Helfer in unseren Kirchengemeinden – sie alle setzen sich dafür ein, dass Flüchtlinge nicht nur mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden, sondern darüber hinaus auch persönliche Zuwendung erfahren. Viel stärker als dies in der Öffentlichkeit meist wahrgenommen wird, zeichnet sich die katholische Kirche in Deutschland durch die große Vielfalt ihrer Organisationsformen und Verantwortungsträger aus. Dies gilt auch und in besonderer Weise für die kirchliche Flüchtlingshilfe: Zahlreiche Menschen leisten an vielen Orten in der Kirche bewundernswerte Arbeit, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern.

3. Gleichzeitig gelangten die Bischöfe im Verlauf der Herbst-Vollversammlung zu der Überzeugung, dass die großen Aufgaben, die vor uns liegen, auch eine stärkere überdiözesane Zusammenarbeit erfordern. Um diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, wurde das Amt des „Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen“ geschaffen. Die Bischofskonferenz hat mich gebeten, die Aufgabe zu übernehmen – und als Bischof einer Stadt, die in besonderer Weise von Migrationsphänomenen geprägt ist, bin ich der Bitte gerne nachgekommen. Nach meiner Ernennung habe ich einen Arbeitsstab zusammengestellt, in dem die relevanten Akteure der kirchlichen Flüchtlingshilfe versammelt sind: Neben Fachleuten der inländischen und internationalen Flüchtlingshilfe der Caritas gehören dem Arbeitsstab diözesane Migrations- und Flüchtlingsbeauftragte, Vertreter der Ordensgemeinschaften und der katholischen Siedlungswerke sowie Mitarbeiter des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz und des Katholischen Büros in Berlin an. Gemeinsam wollen wir zu einer bedarfsgerechten Weiterentwicklung der kirchlichen Flüchtlingshilfe beitragen. Dabei wird es nicht darum gehen, Doppelstrukturen aufzubauen: Der Deutsche Caritasverband verfügt längst über ein weit verzweigtes Netzwerk an Beratungsstellen; und die neuen Sonderfonds der Bistümer gewährleisten schon jetzt die Finanzierung kirchlicher Flüchtlingsprojekte. Stattdessen wollen mein Arbeitsstab und ich vor allem subsidiär tätig werden. Leitend werden dabei die folgenden Fragen sein: Welche Best-Practice-Beispiele der kirchlichen Flüchtlingshilfe lassen sich finden und verbreiten? Wo besteht ein zusätzlicher Bedarf? Zwischen welchen Akteuren muss eine intensivere Vernetzung stattfinden? Wie können wir unsere Ressourcen und Kompetenzen noch besser als bisher einsetzen? Welche Themen sollten überdiözesan behandelt werden? Insbesondere in den Bereichen, in denen ein gemeinsames Vorgehen notwendig erscheint, wollen wir moderierend und koordinierend tätig werden und zugleich als Impulsgeber für neue Aktivitäten der Flüchtlingshilfe fungieren. Auch die Grenzen und Schwierigkeiten der kirchlichen Flüchtlingshilfe werden wir in den Blick nehmen: Wo klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander? Wo laufen unsere Bemühungen ins Leere? Wo müssen – gerade auch innerkirchlich – Bremsen gelöst werden? Der Arbeitsstab versteht sich nicht zuletzt auch als ein Forum für längerfristige Perspektiven: Die Frage, wie Vielfalt und Zusammenhalt angesichts zunehmender Pluralisierungstendenzen in unserer Gesellschaft miteinander in Einklang zu bringen sind, stellt sich in der aktuellen Situation neu und wird uns weit über den Tag hinaus beschäftigen.

4. Der Arbeitsstab des Sonderbeauftragten bereitet derzeit einen Katholischen Flüchtlingsgipfel vor, der am 24. November 2015 in Würzburg stattfinden wird. Erwartet werden etwa 100 Vertreter der verschiedenen katholischen Organisationen, die einen Beitrag zur Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen leisten können. In mehreren Arbeitsgruppen wird Gelegenheit dazu bestehen, konkrete Handlungsempfehlungen der kirchlichen Flüchtlingshilfe zu erarbeiten. Auf einige der Themenfelder, die in den Arbeitsgruppen behandelt werden sollen, will ich im Folgenden näher eingehen.

Zunächst müssen wir uns fragen, wie wir das Engagement der zahlreichen freiwilligen Helfer auch auf längere Sicht aufrechterhalten können. Ohne professionelle Beratungs- und Qualifizierungsangebote kann die anfängliche Euphorie rasch in Resignation umschlagen. Das müssen wir verhindern. Gleichzeitig bringt die aktuelle Situation auch unsere Hauptamtlichen oft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Auf dem Flüchtlingsgipfel sollen deshalb neue Anregungen für die Stärkung und Qualifizierung aller, die in der kirchlichen Flüchtlingshilfe tätig sind, gesammelt werden.

In der Seelsorge stehen wir ebenfalls vor neuen Herausforderungen. Deutschland wird durch die gegenwärtigen Fluchtbewegungen auch in religiöser Hinsicht vielfältiger. Während es sich bei einem großen Teil der Flüchtlinge um arabische Muslime handelt, gehören nicht wenige von ihnen einer katholischen Ostkirche an. Als Kirche setzen wir uns dafür ein, dass sich jeder, der in unserem Land Zuflucht sucht, bei uns willkommen fühlt. In pastoraler Hinsicht haben wir jedoch eine besondere Verantwortung für die christlichen Flüchtlinge: Gerade in ihren religiösen Bedürfnissen müssen sie sich in unserer Kirche willkommen fühlen. Zugleich ergeben sich aus der aktuellen Situation neue Aufgaben und Möglichkeiten für den interreligiösen Dialog. Der Flüchtlingsgipfel will Impulse für zukünftige Kooperationen zwischen christlichen, muslimischen und jüdischen Akteuren im Bereich der Flüchtlingshilfe geben.

Mit dem nahenden Winter wird die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen drängender. Gemeinsam mit Papst Franziskus haben wir Bischöfe alle kirchlichen Einrichtungen dazu aufgerufen, wo immer dies möglich erscheint, Wohnraum für Flüchtlinge bereitzustellen. Bereits jetzt haben viele Tausende in kirchlichen Gebäuden eine erste Bleibe gefunden. Gleichzeitig wissen wir jedoch, dass der soziale Frieden in unserem Land auf längere Sicht nur dann gewährleistet werden kann, wenn für alle Menschen angemessener Wohnraum zur Verfügung steht. Deshalb wollen wir noch stärker die Ressourcen der katholischen Siedlungswerke nutzen, um neue sozialraumorientierte Wohnprojekte zu realisieren. Das Themenfeld Wohnraum ist ein gutes Beispiel dafür, wie unsere vielfältigen Kompetenzen gebündelt werden müssen: Es reicht nicht, für Flüchtlinge und andere sozial schwächer gestellte Menschen geeignete Gebäude zu errichten. Damit gesellschaftliche Integrationsprozesse nachhaltig unterstützt werden können, müssen auch Akteure aus den sozial-caritativen Diensten und aus dem Bildungsbereich eingebunden werden.

Das Themenfeld der Bildungsperspektiven für Flüchtlinge stellt einen Bereich dar, in dem die katholische Kirche über starke Ressourcen verfügt. Viele unserer Bemühungen werden vergebens sein, wenn für die Menschen, die zu uns kommen, keine adäquaten Bildungs- und Qualifizierungsangebote zur Verfügung stehen. Der Flüchtlingsgipfel wird – von der frühkindlichen und schulischen Bildung bis hin zur Hochschul- und Erwachsenenbildung – die wichtigsten katholischen Akteure in diesem Bereich zusammenführen.

Eine besondere Fürsorgepflicht muss für die Schwächsten und Verwundbarsten unter den jungen Flüchtlingen gelten. Schon jetzt setzen sich viele kirchliche Organisationen – allen voran unsere Jugendhilfeeinrichtungen – für die Bedürfnisse unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ein. Doch je größer ihre Zahl wird, desto schwieriger wird es, bereits erreichte Qualitätsstandards zu halten. Dies stellt auch die kirchlichen Akteure in diesem Bereich vor neue Herausforderungen. Unbegleitete Minderjährige bedürfen in besonderer Weise einer persönlichen Begleitung, die ihnen bei der Bewältigung ihrer seelischen Leiden hilft.

Dies sind einige der Themen, mit denen wir uns auf dem Katholischen Flüchtlingsgipfel beschäftigen werden. Daneben werden jedoch auch allgemeinere Fragen, die das Leitbild der kirchlichen Flüchtlingshilfe betreffen, Gegenstand unseres Gedankenaustauschs sein. Wichtig erscheint mir hier vor allem der folgende Punkt zu sein: Unsere Motivation zur Flüchtlingshilfe speist sich mindestens aus zwei Quellen. Zum einen zeugen die biblischen Texte von einer besonderen ethischen Sensibilität für die Anliegen von Migranten, Flüchtlingen und Heimatlosen. Diese lange Traditionslinie kulminiert in dem berühmten Jesus-Wort, das uns dieser Tage wieder häufiger ins Gedächtnis gerufen wird: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Die Fürsorge für Flüchtlinge ist also Teil unserer christlichen Identität. Zum anderen hat die Kirche stets eine Verantwortung für das gesamtgesellschaftliche Wohl – und sieht sich deshalb gerade auch unter pragmatischen Erwägungen in die Pflicht genommen. Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir uns einseitig auf den Bereich der Flüchtlingshilfe konzentrieren. Unser caritatives Engagement für die vielen Menschen, die an die Ränder unserer Gesellschaft gedrängt werden, setzen wir mit unverminderter Energie fort.

5. Als Kirche können wir vieles bewegen, um konkrete Verbesserungen für Flüchtlinge und sozial schwächer gestellte Menschen in unserer Gesellschaft zu erreichen. Aber wir müssen uns immer wieder eingestehen, dass unsere Handlungsoptionen begrenzt sind. Die Kirche kann keinen Ersatz für tragfähige sozialstaatliche Strukturen anbieten oder den Staat aus seinen hoheitlichen Aufgaben entlassen.

Da Fragen von Flucht und Asyl die ethischen Grundsätze des Christentums berühren, begleiten wir politische Entwicklungen in diesem Bereich mit besonderer Aufmerksamkeit. Hier will ich feststellen: Die enormen Anstrengungen, die die staatlichen Stellen in unserem Land unternehmen, um Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen, erfahren in der Kirche große Anerkennung. Kritisch sehen wir derzeit jedoch Pläne, die darauf abzielen, den Familiennachzug für eine bestimmte Gruppe von Schutzsuchenden einzuschränken. Aus kirchlicher Sicht hat der Grundsatz der Einheit der Familie hohe Bedeutung. Das Anliegen der Bundesregierung, Asylverfahren zu beschleunigen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Dabei muss allerdings weiterhin gewährleistet sein, dass jedem Schutzsuchenden der Zugang zu einer adäquaten Rechtsberatung offensteht und Asylanträge mit der notwendigen Gründlichkeit und Unvoreingenommenheit geprüft werden. Als Christen sind wir dazu berufen, die Freiheit und Würde jedes Menschen, der bei uns Zuflucht sucht, zu verteidigen. Ausgehend von dieser Überzeugung setzen wir uns dafür ein, dass gerade in Krisenzeiten grundlegende rechtsstaatliche, humanitäre und soziale Errungenschaften gesichert werden.