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Das Wort zum Sonntag vom 16.01.2021 - gesprochen von Benedikt Welter
"Die Menschen lügen – Doppelpunkt – Alle." Das ist nur vordergründig ein Test in Logik. Denn wenn alle Menschen lügen, dann ja logisch gesehen auch der, der das behauptet. Hier geht es um mehr als Logik; es geht um ein zutiefst menschliches Gefühl. "Die Menschen lügen alle": das sagt ein Beter im Psalm 116. Und er sagt das ganz verzweifelt. "In meiner Bestürzung sagte ich: Die Menschen lügen – Alle."
In Corona-Zeiten überfällt mich dieser Satz aus dem Psalmenbuch immer wieder. Klar. Gerade jetzt in der Pandemie ist doch so viel zu reden und zu erklären.
Aber die vielen Worte kommen an die Wirklichkeiten nur selten heran, die sie beschreiben wollen. Und so ist da auch viel Wortlosigkeit. "Mir fehlen die Worte". Auch so eine widersprüchliche Wendung. Selbst wenn mir die Worte fehlen – habe ich Worte, um das zu sagen.
Mein Lieblingsitaliener, die Pizzeria gleich um die Ecke bei meinem Pfarrhaus: Geschlossen. An ihn denke ich: Für den November hat Paolo eine Abschlagszahlung bekommen; seitdem nichts mehr. Dabei geht es ihm gar nicht um sein Einkommen; er will seine Leute in Lohn und Brot halten. Und da wird's langsam eng. Ersparnisse gehen drauf. Bei anderen Betrieben ist es noch schlechter.
"Die Menschen lügen: Alle!" Da spricht ein großer Zweifel an allem, was Menschen sagen und versprechen; herangewachsen ist dieser Zweifel aus schlechten Erfahrungen. Zum Beispiel im Wirtschaftsleben.
In meiner weiteren Familie war ein Mann mit dem Covid19-Virus infiziert und ist erkrankt und binnen zweieinhalb Tagen gestorben. Angesteckt hatte er sich in der Klinik. Am Ende arbeitete seine Lunge nur noch mit 10 Prozent ihrer alten Leistung. Kann ich, muss ich da tröstende Worte finden? Eigentlich fehlen mir doch die Worte; fast egal, was ich der Familie sagen würde: mir würde der Psalmenbeter ins Ohr schreien: Die Menschen lügen – alle; auch du". Ich glaube, gerade WEIL ich Christ bin, darf ich es mir erlauben, mich ungetröstet zu fühlen; ich darf verzweifelt und bestürzt verstummen. Und alle würden verstehen, wenn wir da gemeinsam nur noch schweigen können.
Ja, ich entwickle gerade eine Skepsis gegenüber allzu vielen Worten, die in diesen Zeiten gesprochen, gebrüllt, getwittert oder sonst wo gepostet werden. Ein Lockdown der Gedanken täte mir manchmal gut – ist aber so unmöglich wie Gedanken ohne Worte. Dabei muss ich mir die Krise doch nicht schönreden, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht oder höher. Hoffnungsparolen zu plärren, darf ich mir verbieten, wenn das Herz im Leibe zittert.
Der Psalm 116 ist ein Liebesgedicht an Gott; und da haben auch der Zweifel und das Zittern ihren Raum. Gerade weil ich an Gott glaube, darf ich aussprechen, wo's in mir hakt, wo ich nicht mehr weiterweiß. Eine Zeile, bevor der Psalm seine Verzweiflung herausschreit über die Menschen, die lügen: alle… Eine Zeile davor hatte er gesagt: "Ich glaube an Gott, auch wenn ich gerade sagen muss: Ich bin so tief gebeugt."
Gerade in einer Krise wie in unseren Tagen braucht es auch den Mut zur Verzweiflung. Denn selbst wenn es gelegentlich stimmen sollte, dass die Menschen lügen – alle: dann stimmt auch, was ein anderes biblisches Gebet sagt: "Gut ist es, schweigend zu harren auf den Herrn".