Das Wort zum Sonntag vom 27.03.2021 - gesprochen von Benedikt Welter
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.
Memento heißt dieses Gedicht von Mascha Kaléko.
Ich habe dieses Gedicht verwendet in einem Trauergottesdienst. Ein Suizid. Ein junger Mann aus meinen Gemeinden hat sich das Leben genommen. Ich kenne ihn. Ich kenne seine Familie. Ich kenne seine Freunde. Wieviel Verzweiflung und wieviel Nacht muss in einem Menschen sein, wenn er selbst seinem Leben ein Ende setzt? Und wieviel Verzweiflung und Ohnmacht und Nacht müssen seine Familie und seine Freunde jetzt aushalten und damit leben?
Todesgedanken. Vor ein paar Tagen haben die Verantwortlichen unserer Ökumenischen Telefonseelsorge mir berichtet: In der Online-Beratung per E-Mail und Chat melden sich immer mehr junge Menschen zwischen achtzehn und dreißig. Und zwar vor allem mit einem Thema: Suizidgedanken. Ich bin erschüttert. Erschütternd und dann auf einmal ganz nahe: der junge Mann aus meiner Gemeinde.
Beides nehme ich mit in die Karwoche, die morgen beginnt. Am Palmsonntag tragen wir ein mit grünen Zweigen geschmücktes Kreuz durch die Kirche. Noch ist ja alles gut. Am Karfreitag erinnern wir daran, wie Jesus gestorben ist. Aber mit den Eindrücken der letzten Tage und Wochen bin ich schon einen Schritt weiter. Sozusagen am Karfreitag-Abend. Wenn Jesus tot und begraben ist.
Im christlichen Glaubensbekenntnis heißt es: "ER ist hinabgestiegen in das Reich des Todes." Das ist mehr als Grabesruhe: Jesus geht durch das Totenreich hindurch – so haben es die frühen Christen sich vorgestellt. Er geht tiefer als nur ins Grab. Er durchdringt den tiefsten aller Abgründe. Den Abgrund der Verzweiflung. Wo auch der letzte Lebensfunke erlischt.
Wenn ein Mensch viel mehr als down ist, geht Jesus mit ihm – auch in diesen Abgrund und hoffentlich auch hindurch. Jesus geht mit. In und durch den Abgrund eines Menschen, der nicht mehr leben will. Diesen Abgrund nimmt er mit, diesen Abgrund nimmt er auf. Diesen Weg geht Jesus in dieser Karwoche, und das feiern die Christenmenschen: den "Abstieg".
Das scheinen erst mal keine schönen Gedanken im "Wort zum Sonntag". Aber das Leben kennt diese dunklen Seiten ohne Wenn und Aber.
Jesus, ganz unten auch bei denen, die trauern und die Fragen haben, die keine Antwort finden: "Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muß man leben." In diese Karwoche gehe ich mit Jesus, der die Abgründe durchschreitet, der sich anrühren lässt von allen Abgrundtiefen des Menschen.
In seinem Leben hat Jesus sicher auch den Psalm gebetet, in dem es heißt: "Auch die Finsternis ist nicht finster vor Gott, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis…" Kein Schmerz soll unerlöst bleiben. Karwoche so gesehen: eine Trauer- und eine Trostwoche zugleich.