Das Wort zum Sonntag vom 26.06.2021 - gesprochen von Wolfgang Beck
Was für ein Geschichtslehrer! Er will, dass seine Schüler*innen nicht nur in die Vergangenheit schauen. Er will, dass sie für das Leben heute etwas verstehen. Mit einem Experiment will er seiner Schulklasse unmissverständlich deutlich machen, dass sich Diktaturen jederzeit wiederholen können. Er beginnt mit neuen Regeln, mit Disziplin und zunehmender Strenge. Und so entsteht mit den Schüler*innen Schritt für Schritt eine eigentümliche Bewegung, eine "Welle". Die dazu gehören, grenzen sich zunehmend ab, verstehen sich als Elite, leben nach eigenen Regeln. Sie bilden eine eingeschworene Gemeinschaft. Der Roman "Die Welle" hat mich als Jugendlichen fasziniert, weil er zeigte, wie schnell Menschen zu manipulieren sind. Es braucht nur eine charismatische Person und ein paar Tricks. Und auch diejenigen, die sich vorher für kritisch und aufgeweckt hielten, laufen schnell einfach mit. Das Gefährlichste ist vielleicht: Es gibt eine Entwicklungsdynamik, in der irgendwann kein kritisches Nachfragen mehr möglich ist. Kein Einwand, dass manches doch sehr seltsam wirkt, scheint dann noch möglich.
Ich musste in der letzten Zeit häufiger an dieses Buch denken, weil auch in der Kirche Gruppierungen und Gemeinschaften in den Blick gekommen sind, in denen besonders charismatische Charakterköpfe eine neue Bewegung von Menschen mit viel Begeisterung entfacht haben. In auffallend vielen Fällen wurde mit ein paar Jahren Abstand bekannt, dass diese Typen – meistens Männer - zu selbstherrlichen Autokraten geworden waren. Dass es Übergriffe, geistliche und sexualisierte Gewalt gab. Und ein paar Elemente sind dabei dem Jugendroman auffallend ähnlich: eine charismatische Person, die mit einem Wechselspiel aus Strenge und Zuwendung agiert und irgendwann aus der Gruppe nicht mehr kritisiert werden kann. Als Führungsperson gilt sie mit der Zeit als sakrosankt. Und wer aufsteht und doch den Mund aufmacht, weil er oder sie Dinge mitbekommen hat, die gewalttätig und übergriffig oder manipulativ sind, der wird schnell zum Schweigen gebracht. In so einer religiösen "Welle" mag ja niemand als Außenseiter gebrandmarkt werden. Schnell heißt es sonst: Das ist ein "Nestbeschmutzer". Und irgendwann traut sich niemand mehr, unbequeme Fragen zu stellen oder Missstände anzusprechen.
Solche charismatischen Typen sind mir nicht geheuer – weder in Kirchen und Religionen noch in Politik und Gesellschaft. Als katholischer Theologe weiß ich aus den Skandalen meiner Kirche, wie gefährlich es werden kann, wenn charismatische Typen in der Leitung von Gemeinschaften die nüchterne Arbeit an Sachfragen in den Hintergrund rücken. Ich weiß, wie verlockend es nicht nur für junge Menschen sein kann, sich für einzelne Menschen, für Charaktertypen mit Charisma zu begeistern. Irgendwann werden sie auf ein Podest gestellt – oder klettern selbst drauf. Und behaupten dann, dass bei ihnen und unter ihrer Führung natürlich alles anders und besser läuft.
Das Auftreten Jesu, wie es die Bibel schildert, schätze ich auch deshalb, weil es sich davon wohltuend abhebt. Bei ihm werden die Menschen mündig und frei, um selbst Verantwortung übernehmen zu können. Sie werden nicht zur gleichförmigen Masse, in der sich niemand mehr traut, den Kopf zu heben. Dass es in der Entstehung des Christentums von Beginn an Streit und Konflikte gab, ist deshalb ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass sich da Menschen zusammengefunden haben, die Freiheit gewinnen. Kein Kontroll- und Spitzelsystem, kein autoritärer Druck von oben nach unten. Es ist vielmehr eine Bewegung, in der alle zum freien, selbstbewussten Auftreten bestimmt sind.