Das Wort zum Sonntag vom 14.08.2021 - gesprochen von Gereon Alter
"Wann haben Sie zum letzten Mal den Himmel auf Erden erlebt? – Schon länger her? Morgen werden wir daran erinnert, dass es diesen Himmel noch gibt und dass es lohnt, sich mit Leib und Seele nach ihm auszustrecken. Mariä Himmelfahrt. Klingt etwas seltsam, meint aber genau das. Wir Menschen sind darauf angelegt, mit Leib und Seele nach dem zu streben, was wir bildhaft den Himmel nennen. Jenseitsvertröstung? Fromme Sauce? Keineswegs.
Wenn ich an den laufenden Wahlkampf denke, dann wünsche ich mir Politiker, die ihre Sache mit Leib und Seele tun. Keine gewieften Taktierer und Quotenhaie, sondern Menschen, die eine Vorstellung davon haben, wie es besser gehen kann und sich verlässlich dafür einsetzen. Wenn ich auf die Corona-Pandemie schaue, dann wünsche ich mir nichts mehr, als dass wir uns bald wieder mit Leib und Seele aufeinander einlassen können und die Leichtigkeit zurückgewinnen, die wir vorher besaßen. Und wenn ich an die Menschen denke, denen alles genommen wurde - durch das Hochwasser, einen Waldbrand, oder einen der noch immer wütenden Kriege, - dann wünsche ich mir, dass auch sie wieder unversehrt an Leib und Seele leben können.
Wie aber geht das? Vor allem mit der Seele? Und was ist das überhaupt: die Seele? – Von Maria, der Mutter Jesu, heißt es, dass sie alles, was ihr widerfuhr, alles, was sie gehört und gesehen hat, "in ihrem Herzen bewog". Was damit gemeint ist, hab ich erst so richtig begriffen, als ich Giora Feidman kennengelernt habe. Diesen wunderbaren Klarinettisten, den auch Sie ganz sicher schon gehört haben. Seine Musik erklingt bei Hochzeiten und Beerdigungen, er hat schon im Bundestag gespielt und so mancher Gedenkfeier eine unvergessliche Tiefe verliehen.
Auf die Frage, wie er gelernt habe, Menschen derart zu berühren und in Bewegung zu bringen, hat er mal in einem Interview gesagt, dass seine wichtigste Übung mit der Klarinette sei, Zeitungsnachrichten zu interpretieren. Sein Lehrer habe ihm dazu geraten und ihn aufgefordert, das "Inwendige der Worte" hörbar zu machen. Die Seele dessen, was da geschrieben steht. Denn es sind ja nicht bloß Worte und Nachrichten, die tagein tagaus auf uns einströmen. Hinter jedem Wort und jeder Nachricht verbirgt sich immer auch ein Mensch, eine Lebensgeschichte, möglicherweise eine Not. Das mit der Klarinette hörbar zu machen, darum sei es in seinem Leben immer gegangen, sagt Feidman.
Nun können die Wenigsten von uns so Klarinette spielen wie er. Was wir aber wohl können, ist: Hinhorchen, wenn einer was sagt. Es "im Herzen bewegen". Dem "Inwendigen der Worte" nachspüren. Ist ein Politiker nur auf Wählerstimmen und Anerkennung aus oder ist ihm das, was er sagt und tut, wirklich ein Anliegen? Ist mein Gegenüber nur einer, der sich nicht impfen lassen will, oder einer, der sich genauso wie ich nach Normalität und Leichtigkeit sehnt? Ist der, dem alles genommen wurde, nur ein bedauerliches Opfer, oder ist er mein Bruder?
Es verändert meinen Blick auf die Wirklichkeit, wenn ich Worte und Dinge, die mir begegnen, "im Herzen bewege". Es hilft mir, mich mit Leib und Seele auf diese Welt und ihre Herausforderungen einzulassen. Es macht mich urteilssicherer und handlungsfähiger. Von Maria, der Mutter Jesu, heißt es, dass sie mit dieser Lebenshaltung in Richtung Himmel gefahren sei. Das ist alles andere als eine Jenseitsvertröstung oder etwas, das sich nur Frommen erschließt. Es meint, dass sie dem, was wir Menschen uns für unser Leben und unsere Welt ersehnen, nähergekommen ist. Und es erinnert uns daran, dass es sich lohnt, mit Leib und Seele danach zu streben.
Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und einen himmlischen Sonntag."