Das Wort zum Sonntag vom 25.09.2021
"Kanzlerkandidaten unfähig. Merkel bleibt." Behauptet das Satiremagazin "Eulenspiegel" auf dem aktuellen Titel. In einer Fotomontage sitzt Angela Merkel mit Krone auf dem Kopf auf einem Thronsessel. Daneben die Kandidatin und die Kandidaten mit den Untertiteln: Pest, Cholera, Ruhr. Überschrift: "Pandemiewahl abgesagt."
Nein, nein. Morgen wird gewählt. Die Satire übertreibt – aber sie zeigt doch, was in den letzten Wochen die Debatten geprägt hat – ich habe es jedenfalls auch so erlebt: Personen stehen im Mittelpunkt aller medialen Aufmerksamkeit. Ihre Gesichter, ihre Reaktionen aufeinander oder auf Fragen und Probleme, ihre Emotionen oder scheinbare Distanz.
Mich interessiert etwas ganz anderes: Was braucht jemand, der oder die in Staat und Politik ganz vorne und ganz oben steht?
Die Bibel erzählt vom Traum eines Spitzenpolitikers vor über dreitausend Jahren. Salomo, König im alten Israel, träumt eines Nachts ein Gespräch mit Gott. Er hat eine Bitte frei; und Salomo wünscht sich: "Schenke mir doch ein hörendes Herz, damit ich dein Volk Israel zu regieren verstehe und das Gute vom Bösen unterscheiden kann! Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?"
Das gefällt Gott, und er antwortet dem Salomo: "Du hättest um langes Leben bitten können, um Reichtum oder um den Tod deiner Feinde; aber du bittest um Einsicht, damit du auf das Recht hören kannst. Deshalb werde ich deine Bitte erfüllen."
Ein hörendes Herz. Das gilt doch auch in unseren Zeiten. An einem Spitzenpolitiker der neueren Zeit sehe ich, dass die Bitte um ein hörendes Herz sehr modern sein kann. Dag Hammarskjöld war Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat unter anderem die UNO-Blauhelme erfunden; vor 60 Jahren war er auf einer Friedensmission unterwegs und wurde mit seinem Flieger abgeschossen. In seinem Nachlass fanden sich private Aufzeichnungen in einem Tagebuch; sie zeigen mir: Dieser Spitzenpolitiker hatte ein sehr intensives Innenleben. Ein Politiker mit einem hörenden Herzen schreibt da auf, was ihn im Innersten bewegt und antreibt. Das Tagebuch ist "eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst – und mit Gott", hat er mal einem Freund gesagt. Viele und lange Verhandlungen hat er geführt; innerlich, aber natürlich auch im Leben als UNO-Generalsekretär.
Hammarskjöld fühlt sich vermeintlich altertümlichen Einstellungen verpflichtet. Er versteht sein Leben und sein Amt als Dienst und – ja – als Unterwerfung unter die Aufgaben, die sich ihm stellen. In seinem Tagebuch schreibt er:
"Ich weiß nicht, wer – oder was – die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Ich weiß nicht, ob ich antwortete. Aber einmal antwortete ich ja zu jemandem – oder zu etwas. Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist und dass darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat".
Morgen am Wahltag geht es um Parteien und um Baerbock, Laschet und Scholz. Wir wählen Politikerinnen und Politiker und übertragen ihnen Mandate und Ämter auf Zeit. Ich wünsche allen und besonders denen, die an der Spitze stehen werden, ein hörendes Herz; oder mindestens sollten sie es sich wünschen. Und fähig sein, trotz der "Pflichten des Oberflächenlebens" auch ein Innenleben zu haben und es zu erkunden und daraus zu leben – ähnlich vielleicht, wie es ein Dag Hammarskjöld getan hat.