Besondere Exerzitienformen: Mit Ignatius von Loyola auf die Straße
Wer bin ich? Wo will ich hin? Sich diesen Fragen zu widmen, erfordert Zeit, Ruhe und Besinnung. Um zu genau dieser Besinnung zu kommen, entwickelte Ignatius von Loyola in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die nach ihm benannten Ignatianischen Exerzitien. Sie dauern vier Wochen, in denen sich die Teilnehmer vollständig aus dem Alltagsleben zurückziehen. Nur Eucharistie, Meditation, Gebet, Evangelienbetrachtung und Gewissenserforschung stehen auf dem Tagesplan – und das alles schweigend. In ihrer Zeit waren diese Exerzitien eine Revolution, stand doch erstmals der Gläubige als Individuum im Vordergrund, der auf der Suche nach sich selbst und Gott ist. Aus den Anhängern dieser geistlichen Übungen entstand eine Gemeinschaft, aus der später die Gesellschaft Jesu hervorging, auch Jesuiten genannt.
Obwohl die Suche nach sich selbst heute im Trend zu liegen scheint, spricht das ignatianische Exerzitienkonzept nicht mehr unbedingt jeden an. Deshalb haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unterschiedliche Varianten entwickelt, die andere Zugänge zu Besinnung und Selbsterkenntnis suchen.
Eines dieser Konzepte setzt auf Filme. Film-Exerzitien bietet unter anderem der Münchner Jesuitenpater Christof Wolf gemeinsam mit seinem Schweizer Mitbruder Franz-Xaver Hiestand an. Von der Form her sind diese Exerzitien dem Konzept des Ignatius nicht fern: Jeder Teilnehmer ist auf sich allein gestellt, es wird geschwiegen und während der einen Woche Besinnungszeit gibt es jeden Tag vier Gebetszeiten, das Begleitgespräch, das Angebot zu Körperübungen sowie die gemeinsame Eucharistiefeier. Zu diesen traditionellen Ingredienzien treten Filme hinzu: An drei Abenden wird jeweils ein Film gezeigt, "als Impuls", wie Christof Wolf erzählt. Jeder Teilnehmer soll aus dem Film etwas in sein eigenes Leben übertragen. Das Medium dient als Identifikations- oder Distanzierungsangebot. Es beginnt damit, sich eine Filmszene nochmals vorzustellen – ganz im Sinne des Ignatius. "Ihm ging es darum, dass das Gebet nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler, sinnlicher Vorgang ist", sagt Wolf. Die Teilnehmer lassen innere Bilder entstehen und imaginieren in sich ihren eigenen Film. Danach können sie sich einer biblischen Geschichte widmen und diesen Verbildlichungsprozess an der Heiligen Schrift weiterführen.
Jeder auf seiner Suche
Bei diesem Prozess geht jeder auf die Suche nach sich selbst: Denn der Film wird zwar gemeinsam geschaut, danach aber nicht besprochen. "Jeder soll sich seinen eigenen Fragen und Emotionen widmen und nicht denen der anderen", begründet Wolf. Das hat auch Einfluss auf die Auswahl der Filme: Sie dürfen keinen harten Sex oder zu viel Gewalt enthalten, denn in einem von Schweigen und Alleinsein geprägten Umfeld kann das den Einzelnen kalt erwischen. "Das kann dann keine geistliche Begleitung auffangen, wir machen hier schließlich keine Therapie. Deshalb sind etwa Vergewaltigungsszenen ein Problem." Abseits dieser Einschränkungen finden sich aber viele verschiedene Genres in der über 50 Titel zählenden Auswahl der beiden Patres. Hollywoodfilme sind dort genauso zu finden wie Arthauskino.
Wolf schätzt an der Arbeit mit Filmen, dass es ein unterschwelliges Angebot für ein breites Publikum ist. Denn Filme sagen jedem etwas, unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht – und sie sagen jedem etwas Anderes. Für Christof Wolf ist das eine Chance. Auch "geübten" Exerzitienteilnehmern ermöglicht dieses Format neue Zugangsformen, sagt er. "Es kommen durchaus Theologen, die ganz froh sind, dass sie die Bibel einmal zu lassen können und nur mit den Filmen beten." Das ist im Hinblick auf die Wirkung der Exerzitien kein Problem, findet er: "Nach Ignatius möchten die biblischen Geschichten einen Resonanzraum für das eigene Leben erzeugen, das können gute Filme auch. Wir machen hier keine Exegese."
Raus auf die Straße
Ein in seinem Anspruch ebenso niederschwelliges, aber schon im Ansatz radikal anderes Angebot sind die Exerzitien auf der Straße. Jesuit Christian Herwartz entwickelte sie in den 1990er Jahren und schickte die Menschen raus in die Welt. "Wenn man alle Vorurteile und Scheuklappen ablegt, sieht man etwas Neues", ist sein Credo. Er orientiert sich an einer Stelle aus dem Lukasevangelium: "Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemanden auf dem Weg!" (Luk 10,4) Herwartz gibt den Teilnehmern zunächst diesen kurzen Impuls mit auf den Weg und fordert sie auf, ihre Sehnsucht zu erforschen und neugierig zu sein. Dann schickt er sie ohne Geld oder Lunchpaket auf die Straße. Das "Grüßt niemanden" legt er so aus, dass sich der Einzelne nicht von seiner Frage abbringen lassen soll, die Exerzitien also nicht zum puren Sightseeing verkommen.
Wie in der Geschichte der Emmausbrüder (Luk 24,13-35) steht das Sich-ansprechen-lassen und für Antworten von außen offen sein im Zentrum dieser Exerzitienform: Jegliche Distanz zu anderen Menschen und Gedanken soll fallen gelassen werden, jeder seine Komfortzone verlassen. Manche setzen sich zu Obdachlosen und kommen ins Gespräch, wieder anderen sagt der Spruch auf einem Werbeplakat etwas.
Durch diese Herangehensweise sind Straßenexerzitien auch für weniger religiöse Menschen interessant – was zu einer guten Annahme führt: Bei einem Kirchentag bot Herwartz Exerzitien in drei Stunden an – 120 Menschen kamen. Eine Frau berichtete ihm danach, sie habe die Straße, in der sie lebe, auf einmal mit ganz anderen Augen gesehen. Normalerweise dauert aber auch diese Form länger: Zwischen drei und zehn Tage.
Auf dem Weg zum Selbst können also ganz unterschiedliche Pfade beschritten werden: Neben den beschriebenen Formen gibt es auch Wander-, Motorrad-, Fasten-, Internet- und sogar Whiskyexerzitien. Eine bis heute beliebte Form geht sogar noch auf den Begründer zurück: Ignatius von Loyola empfahl auch Exerzitien für jene, die sich nicht längere Zeit aus dem Alltagsleben herausnehmen können. Daraus sind die Exerzitien im Alltag entstanden, die sich durch regelmäßige Treffen und Gebetszeiten neben dem "normalen Leben" auszeichnen. Geblieben ist allen Varianten der Grundgedanke: Sich als Individuum auf den Weg machen, um sich selbst und damit auch Gott zu begegnen.