"Die Idee ist nicht rübergekommen"
Frage: Herr Thönissen, das Reformationsgedenken neigt sich dem Ende. Ihr Urteil: Top oder Flop?
Thönissen: In der großen Öffentlichkeit eher ein Flop. Gerade bei den Veranstaltungen der EKD hätte es aber besser laufen können.
Frage: Was ist schiefgelaufen?
Thönissen: Es ist nicht rübergekommen, welche Idee hinter dem Reformationsgedenken wirklich stecken soll. Wir kennen alle die Schlagworte Reformation, Demokratie, Menschenrechte oder Gewissensfreiheit. Mit diesen Paradigmen hantiert man, erklärt sie aber nicht. Dadurch ist das ganze Reformationsjahr oberflächlich und zu wenig differenziert geblieben.
Frage: Was hat besser funktioniert?
Thönissen: Ökumenische Akzente zu setzen. Das lässt sich gut am Begriff des Reformationsgedenkens aufzeigen. Das schließt einen kritischen Blick auf das mit ein, was geschehen ist. Die Spaltung der abendländischen Kirche kann man nicht feiern, sie aber auch nicht ignorieren. Man muss sich auf beiden Seiten also irgendwie zu dieser Trennung verhalten. Das ist auf weltkirchlicher Ebene zwischen Lutheranern und dem Vatikan mit einem gemeinsamen Schreiben und dem Gottesdienst in Lund ebenso geschehen wie in Deutschland zwischen der DBK und der EKD. Mit dem Text "Erinnerung heilen" wollten wir aufzeigen, dass man sich der Vergangenheit mit Vergebung und Buße annehmen kann. Man kann lernen, mit Geschichte anders umzugehen. Für die Zukunft bedeutet das dann, es anders und besser zu machen.
Frage: Es sind also viele Papiere verfasst worden. Aber sind Sie sich sicher, dass die ökumenische Botschaft wirklich bei den Menschen da draußen angekommen ist?
Thönissen: Ich vermute, dass das nicht wirklich gelungen ist. Das Gespür dafür, dass etwas, das zerbrochen ist, geheilt werden muss – ob zwischen Institutionen oder Menschen –, ist verloren gegangen. Die Ausgangsfrage der Reformation war, wie wir mit Vergebung, Sünde, Reue und Gerechtigkeit umgehen. Vielleicht haben wir bis heute keine Antwort darauf, wie wir Versöhnung mit Gott und unter den Menschen vermitteln können und sollen. Nehmen Sie in der katholischen Kirche zum Beispiel das Bußsakrament. Wer nimmt das noch wirklich und aus tiefstem Herzen für sein Leben ernst? Andererseits ist das Thema Versöhnung für unser heutiges Miteinander von zentraler Bedeutung. Und das ist das Dilemma.
Frage: Warum war das Reformationsjahr dann wieder so auf die Vergangenheit fokussiert? Warum fand es seinen Ausgangspunkt nicht in dem, was die Menschen heute wirklich beschäftigt – gesellschaftlich wie ökumenisch?
Thönissen: Eigentlich war das bereits der Rat in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999: Wenn wir die historischen Fragen zur Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grad geklärt haben, bedeutet das nicht, dass wir die Antworten für die Fragen der Menschen von heute haben. Genau die müssen wir als Kirchen aber beantworten: Wo haben wir gerechte Arbeitsverhältnisse? Wo haben wir gerechte Lebensverhältnisse? Ist es gerecht, Menschen an den Grenzen abzuweisen? Das alles sind Fragen, die uns unmittelbar betreffen und einen theologischen Kern haben. Diesen gilt es, deutlich zu machen.
Frage: Aber diese Fragen wurden im Reformationsjahr nicht gestellt.
Thönissen: Da gebe ich Ihnen Recht. Das ist zu wenig geschehen.
Frage: Ist man denn wenigstens theologisch im Reformationsjahr vorangekommen?
Thönissen: Ja, in einem Festakt in Wittenberg hat in diesem Jahr die Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Und auch die Anglikaner sollen folgen. Das ist ein Ergebnis, das man durchaus als theologischen Erfolg verbuchen kann.
Frage: Sind solche Erfolge nicht Augenwischerei? Schließlich nähert man sich beim Kirchenverständnis nicht an und driftet in ethischen Fragen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe oder der Sterbehilfe sogar noch weiter auseinander…
Thönissen: Dem möchte ich entgegenhalten, dass Lutheraner und Katholiken in Deutschland erst im Februar das gemeinsame Papier "Gott und die Würde des Menschen" herausgegeben haben, in dem eine grundlegende Übereinstimmung in anthropologischen Fragen festgestellt wird. Wenn man nun die Frage stellt: Besteht eine grundlegende Differenz in der Flüchtlingsfrage? Nein. Wie steht es mit der Frage der Gerechtigkeit in der Welt? Oder dem Umgang mit Armut? Auch da nicht. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch Themenfelder gibt, bei denen Differenzen auftauchen. Allerdings würde ich nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass wir in ethischen Fragen weiter auseinanderdriften und unsere bisherigen Übereinstimmungen auf Sand gebaut sind.
„Beide Kirchen sind in der Frage der Eucharistie nicht so weit voneinander entfernt“
Frage: Aber wie steht es um eine mögliche theologische Annäherung?
Thönissen: Wir sollten erst einmal betonen, dass wir uns mit Blick auf den Zusammenhang von Rechtfertigungsbotschaft, Feier der Eucharistie, Amts- und auch Kirchenverständnis schon viel näher sind, als es gemeinhin wahrgenommen wird. Es gibt keinen Konsens, aber immer wieder Annäherungen. In Finnland sprechen Lutheraner und Katholiken aktuell über wachsende Gemeinschaften und fokussieren sich dabei auf die Amtsfrage. Auch vom Vatikan wurden Experten befragt, wie das Amtsverständnis im ökumenischen Dialog zu beurteilen ist. All das kann man als Frucht des Reformationsjahres sehen. Auch wenn diese Gespräche nicht in aller Öffentlichkeit stattfinden, sind wir an den Themen dran und werden es auch in Zukunft bleiben.
Frage: Mal ganz polemisch: Ein evangelischer Pfarrer ist nicht geweiht, so dass in einer evangelischen Abendmahlsfeier nach katholischem Verständnis nie eine eucharistische Wandlung vollzogen werden kann. Können wir diesen Unterschied wegdiskutieren?
Thönissen: Wegdiskutieren können wir ihn nicht. Es reicht im ökumenischen Dialog aber nicht aus, einfach Begriffe wie "geweiht" und "nicht geweiht" gegeneinander zu stellen. Man muss vielmehr in den Sachverhalt eintauchen. Auch Luther kannte eine Berufung zum Amt. Und derjenige, der dazu berufen wurde, wurde ebenfalls "rite vocatus", also ordnungsgemäß ordiniert – und zwar durch Handauflegung und Gebet wie bei der Priesterweihe. Betrachtet man diese Fakten, kann man bei Luther kein vollkommen anderes Amtsverständnis diagnostizieren. Wir müssen uns also von der Sache und nicht vom Begriff her annähern.
Frage: Was bedeutet das für die gegenseitige Teilhabe an Abendmahl und Eucharistie?
Thönissen: Wir können eines sicher gemeinsam sagen: Niemand wird prinzipiell von Abendmahl oder Eucharistie ausgeschlossen. Das gilt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch seitens der katholischen Kirche. Einzelne evangelische Christen können unter besonderen Voraussetzungen zur Kommunion hinzutreten. Das Ökumenische Direktorium von 1993 sagt das genauso wie Papst Johannes Paul II. und jetzt Papst Franziskus. Eine prinzipielle Öffnung hin zu einer ökumenischen Eucharistiefeier bedeutet das aber noch nicht. Dafür sind die Amtsverständnisse beider Kirchen noch zu weit voneinander entfernt. Vor allem die evangelische Kirche sehe ich da in der Bringschuld.
Frage: Ist die konfessionsverschiedene Ehe Ihrer Meinung nach ein Fall, bei dem der protestantische Partner hinzutreten darf?
Thönissen: Wir dürfen den Menschen jedenfalls nicht sagen: Weil ihr in einer konfessionsverschiedenen Ehe lebt, ist euer evangelischer Partner von vornherein ausgeschlossen. Das auch noch mit den theologischen Differenzen zwischen den Kirchen zu begründen, funktioniert nicht. Denn beide Kirchen sind in der Frage der Eucharistie nicht so weit voneinander entfernt. Wenn der Einzelne auch noch den Glauben an die Eucharistie teilt, dann muss es auch die Möglichkeit der Teilhabe geben. Wir reden hier von einer Pastoral der Integration statt der Ausgrenzung. Mit Gesetzen wie mit Steinen zu schmeißen, wie Papst Franziskus sagt, hat in der heutigen Pastoral keinen Ort mehr. Und das ist auch nicht katholisch.