Wie das Berliner Canisius-Kolleg auf den Missbrauchsskandal reagiert hat

Ewiges Stigma?

Veröffentlicht am 29.01.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Bild: © KNA
Missbrauch

Berlin ‐ Das Trauma ist im Haus noch spürbar", sagt Pater Tobias Zimmermann. Der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs weiß, dass das renommierte Jesuitengymnasium auch mit dem Stigma "Missbrauch" leben muss. Es hat ein umfassendes Präventionskonzept erarbeitet, um solche Fälle zu verhindern.

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Zimmermanns Vorgänger Klaus Mertes hatte die sexuellen Übergriffe mehrerer Patres, die bis in die 80er Jahre geschahen, vor fünf Jahren öffentlich eingeräumt. Damit löste er eine Welle weiterer Enthüllungen in kirchlichen Einrichtungen, aber auch an der reformorientierten "Odenwaldschule" und anderen Einrichtungen aus. Sexueller Missbrauch ist seither ein Dauerthema in Politik und Gesellschaft.

Im Alltag der rund 800 Kinder und Jugendlichen am Canisius-Kolleg ist das allerdings nicht so. "Da war doch so ein Medien-Hype", erinnert sich eine 16-jährige Schülerin eher belustigt. Fünf Jahre sind lange her für einen Teenager, der sich mit Notenstress und Beziehungsknatsch herumschlägt. Für die Canisius-Pädagogen hat die Zeit dagegen nicht gereicht, um einen Verhaltenskodex für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter zu beschließen.

"Wird derzeit noch erarbeitet", heißt es im Präventionskonzept, das auf der Internetseite des Gymnasiums abrufbar ist. Ein Entwurf liegt aber bereits vor, wie Zimmermann betont, der im Auftrag der Jesuiten an der Spitze des Canisius-Kollegs steht. Es ist nach seinen Worten manchmal nicht leicht, festzuschreiben, bei welchem Witz oder welcher Berührung Lehrer Grenzen verletzen. Für die Pädagogen des Gymnasiums ist das "Trauma" durchaus präsent, auch wenn nur noch wenige bereits in der Zeit der Missbrauchsfälle hier unterrichteten.

"Würde" und "Selbstbestimmung" als Leitmotive

In aller Detailfülle in Kraft gesetzt sind jedoch die anderen Bereiche des Konzepts. Es führt unter anderem Schülerrechte und Schülerpflichten auf, schreibt besondere "Informationstage" für die fünften und achten Klassen vor und benennt Missbrauch als Thema auch des Religions- und Biologieunterrichts. Zugleich hat das Konzept auch Drogen und Mobbing im Blick.

Mertes während einer Podiumsdiskussion Ende August 2013 in Berlin
Bild: ©KNA

Jesuit Klaus Mertes.

Doch im Kern geht es vor allem um sexuellen Missbrauch. Um ihn auch unter den Schülern selbst zu verhindern, setzt das Konzept schon im Grundsätzlichen an, wie Schulleiterin Gabriele Hüdepohl betont. Die Begriffe "Würde" und "Selbstbestimmung" ziehen sich als Leitmotive durch den rund 40-seitigen Text. "Ich-starke Jugendliche lassen sich nicht missbrauchen", erläutert die Schulleiterin. Auch die begleitende Jugendarbeit des Kollegs, an der die meisten Schüler teilnehmen, soll dabei helfen, etwa durch Rollenspiele für die eigenen Grenzen sensibel zu werden.

Das Canisius-Kolleg setzt überdies auf ein weiteres Standbein. Bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt sind die einzelnen "Verfahrensschritte" zur Aufklärung akribisch festgeschrieben, schon um falsche Beschuldigungen frühzeitig zu erkennen. Eingebunden sind besonders Schulseelsorger und Vertrauenslehrer. Auch eine Kooperation mit externen Einrichtungen soll verhindern, dass wie früher "die Institution wegschaut", wie es Pater Zimmermann formuliert. So arbeitet das Gymnasium mit den Anlaufstellen "Kind im Zentrum" , "Wildwasser" und "Tauwetter" zusammen, die Missbrauchsopfern helfen.

Lehrer müssen draußen bleiben

Wenn die Schüler an den Informationstagen dort zu Gast sind, "müssen die Lehrer draußen bleiben", erklärt die Präventionsbeauftragte des Canisius-Kollegs, Susanne Dinkelborg. Dort sollen sie überdies Vertrauenspersonen und Orte persönlich kennenlernen, an die sie oder ihre Eltern sich im Fall des Falles wenden können.

Pater Zimmermann ist sich bewusst, dass kein Konzept Missbrauch absolut verhindern kann. "Täter gehen zumeist strategisch vor, sie verletzen die Grenzen in kleinen Schritten", begründet er den aufwändigen Maßnahmenkatalog.

Der Attraktivität der "Elite-Schule" haben die Ereignisse jedenfalls nicht geschadet. Die Zahl der Anmeldungen übertrifft nach wie vor bei weitem die Zahl der Plätze. Auch geben Lehrer unter anderem das Präventionskonzept als ein Motiv ihrer Stellenbewerbung an, wie der Jesuit berichtet. Vor allem aber gab es in den vergangenen Jahren keinen Verdacht auf Missbrauch durch Pädagogen.

Von Gregor Krumpholz (KNA)

Chronologie des Missbrauchsskandals

Januar 2010: Der damalige Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, bringt die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ins Rollen. 22. Februar 2010: Die Bischöfe entschuldigen sich bei ihrer Vollversammlung in Freiburg wegen der Missbrauchsfälle. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wird Sonderbeauftragter für Missbrauchsfälle. Eine Telefon-Hotline für Missbrauchsopfer wird eingerichtet. 12. März 2010: Erzbischof Zollitsch unterrichtet in Rom den Papst über die Missbrauchsfälle. Benedikt XVI. reagiert mit großer Betroffenheit. 31. August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch". Bei der umstrittenen Anzeigenpflicht gibt es einen Kompromiss: Erhärtet sich bei den Gesprächen zwischen potenziellen Opfern und den Missbrauchsbeauftragten der Verdacht auf sexuellen Missbrauch, so schreiben die Leitlinien das Einschalten der staatlichen Strafverfolgungsbehörden vor. Eine Ausnahme ist nur dann zulässig, wenn das Opfer ausdrücklich auf einen solchen Schritt verzichten will. 20. September 2010: Erzbischof Robert Zollitsch schlägt bei der Vollversammlung der Bischöfe in Fulda einen "breiten Reflektionsprozess" von Bischöfen, Priestern und Laien vor. Dabei solle es auch um das Bild des Priesters, den Umbruch in den Gemeinden, die Verantwortung der Laien, aber auch um die Sprache der Verkündigung und Fragen von Familie, Partnerschaft und Sexualität gehen. 23. September 2010: Die Bischöfe stellen ein Konzept zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch vor. Es sieht unter anderem vor, dass jedes der 27 Bistümer eine Stelle einrichtet, die sich um Präventionsfragen kümmert. Für haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit wird ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis gefordert. 30. September 2010: Die Bischofskonferenz legt am Runden Tisch in Berlin ein Konzept zur Entschädigung der Opfer von sexuellem Missbrauch vor. Dazu gehört die Zahlung eines Geldbetrags, der als "finanzielle Anerkennung" des zugefügten Leids gelten soll. Darüber hinaus soll es Opfern ermöglicht werden, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. 2. März 2011: Die Bischofskonferenz nennt erstmals eine konkrete Summe von 5.000 Euro, die den Opfern als Anerkennung für ihr Leid ausgezahlt werden soll. 16. Mai 2011: Die vatikanische Glaubenskongregationen verpflichtet Bischofskonferenzen weltweit zur Erarbeitung von Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen. Schwerpunkte liegen auf der Zusammenarbeit mit staatlichen Justizbehörden, Hilfen für Opfer und Prävention. 8. Juli 2011: In Mannheim startet die Bischofskonferenz ihren bundesweiten Dialogprozess. Dazu kommen rund 300 Vertreter aus Diözesen, Orden, Hochschulen und Verbänden zusammen. Die bis 2015 angelegten Gespräche sollen der Kirche verloren gegangenes Vertrauen zurückbringen. 13. Juli 2011: Die deutschen Bischöfe kündigen zwei Forschungsprojekte zur wissenschaftliche Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche an. 15. August 2011: Die Bischofskonferenz gibt bekannt, ihre Hotline für Missbrauchsopfer länger als geplant offen zuhalten. Die Nummer solle nicht im September abgeschaltet werden, sondern bis Ende 2012 weiterbestehen. 23. September 2011: Papst Benedikt XVI. trifft während seines offiziellen Deutschlandbesuchs im Erfurter Priesterseminar mit Missbrauchsopfern zusammen. Er spricht mit drei Männern und zwei Frauen. Von ihrer Not "bewegt und erschüttert", bekundet er ihnen sein "tiefes Mitgefühl und Bedauern". 7. Dezember 2012: Die Ergebnisse des ersten Forschungsprojekts werden vorgestellt. Der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen, Norbert Leygraf, kommt zu dem Schluss, dass katholische Priester, die Minderjährige missbraucht haben, in den seltensten Fällen in klinischem Sinne pädophil seien. 9. Januar 2013: Die Bischöfe beenden nach Differenzen die Zusammenarbeit mit dem Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer beim zweiten Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Im Rahmen der Studie sollten sämtliche Personalakten von Geistlichen in den 27 deutschen Bistümern von 2000 bis 2010 gesichtet und Missbrauchsopfer befragt werden. Die Bischöfe kündigen an, die Studie mit einem neuen Partner fortzusetzen. 28. August 2013: Die Bischöfe schreiben die am 9. Januar vorläufig gestoppte Studie als "interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt" neu aus. 24. März 2014: Die Bischofskonferenz gibt bekannt, dass sie einen Forschungsverbund von sieben Professoren um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals beauftragt. (stz/KNA)